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Text File | 1991-10-12 | 59.2 KB | 1,078 lines |
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- M. James Penton:
- Apocalypse Delayed.
- The Story of Jehovah's Witnesses.
- Toronto 1985
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- Bezugsadresse: University of Toronto Press, Publications
- Department, 5201 Dufferin St., Downsview, Ontario, Canada M3H
- 5T8 (Preis 1989: 16.95 US-Dollar + 4 Dollar Versand)
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- Klappentext:
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- Seit 1876 glauben Jehovas Zeugen, sie leben in den letzten
- Tagen dieser Welt. Ihr Grnder, Charles T. Russell, liess
- seine Anhnger wissen, dass die Glieder der Kirche Christi im
- Jahr 1878 in den Himmel berufen wrden und Christus bis 1914
- alle Nationen vernichten und sein Reich auf Erden aufrichten
- werde. Die erste Voraussage erfllte sich nicht, doch der
- Ausbruch des Ersten Weltkriegs verlieh der zweiten einiges an
- Glaubwrdigkeit. Seit jener Zeit verknden Jehovas Zeugen, das
- Ende werde "binnen kurzem" hereinbrechen. Inzwischen ist ihre
- Zahl auf etliche Millionen in 200 Lndern angewachsen. Jedes
- Jahr bringen sie ber eine Milliarde Druckschriften unter die
- Leute, und sie erwarten auch heute noch das baldige Weltende.
- In dieser detailreichen geschichtlichen Abhandlung geht es vor
- allem um die Apokalyptik, aber auch um weitere Themenkreise.
- Als langjhriges - mittlerweile ausgeschlossenes - Mitglied
- legt Penton einen umfassenden berblick ber diese bemerkens-
- werte religise Bewegung vor. Die drei Teile seines Buches
- gehen das Thema jeweils von einem anderen Aspekt an: dem
- historischen, dem dogmatischen und dem soziologischen. Einige
- der behandelten Fragen sind allgemein bekannt, wie die Ableh-
- nung des
- Kriegsdienstes und der Bluttransfusionen durch die Sekte.
- Andere drehen sich um Kontroversen im Innern der Organisation
- und um den Umgang mit Abweichlern in den eigenen Reihen.
- Bei Penton verbindet sich das Wissen des Insiders mit der
- kritischen Analyse eines jetzt distanzierten Betrachters.
- Zusammengenommen ergibt dies eine scharfsinnige Studie eines
- weltweit um sich greifenden Phnomens.
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- M. JAMES PENTON ist (jetzt emeritierter) Professor fr Ge-
- schichte und Religionswissenschaft an der Universitt Leth-
- bridge, Alberta (Kanada). Zum Zeitpunkt seines Ausschlusses
- aus der Gemeinschaft gehrte seine Familie den Zeugen Jehovas
- in der 4. Generation an.
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- "Pentons einzigartige Ausgangsposition als welterfahrener
- Zeuge Jehovas der vierten Generation, der verschiedene
- Funktionen innehatte, macht ihn zu einem zuverlssigen
- Informanten. Gekonnt bietet er Einblick in die wichtigsten
- Lehren, alte und neue Voraussagen, die Machtstruktur der
- Organisation der Zeugen und die ruppigen Methoden, mit
- denen alle, die eine abweichende exegetische Sichtweise
- offen diskutieren wollen, zum Schweigen gebracht werden."
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- Zeitschrift Christianity Today
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- Seite 3-9: Einleitung
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- Die Religionsgemeinschaft, die heute unter dem Namen Jehovas
- Zeugen bekannt ist, entwikelte sich in den 1870er Jahren zu
- einer eigenstndigen Sekte, und dies ist sie bis zum heutigen
- Tage geblieben. Nach Richard Niebuhr (1929) sollte sich eine
- Sekte mit zunehmender Verbreitung, dem sozialem Aufstieg ihrer
- Mitglieder und ihrer Ausshnung mit der Welt praktisch automa-
- tisch zu einer Denomination weiterentwickeln, einer angepass-
- ten, in ihrer Routine gefestigten Sekte(#1#). Wie bekannte
- Reli-gionssoziologen - unter ihnen Bryan Wilson und Thomas
- O'Dae -feststellten, gilt das aber nicht fr Zeugen Jehovas.
- Sie sind stattdessen eine "etablierte Sekte" geworden(#2#),
- doch eine, die trotz ihrer Erstarrung in Routine der Gesell-
- schaft insgesamt immer noch feindselig gegenbersteht.
- Mit "Sekte" ist hier eine der Welt entfremdete religise
- Bewegung, die ein Monopol auf "die Wahrheit" beansprucht,
- gemeint. Massgeblich beeinflusst hat diese Entwicklung die den
- Zeugen Jehovas eigentmliche millenaristische Eschatologie,
- die Naherwartung des Tausendjhrigen Reiches, und diese ist
- auch heute noch der Grund dafr, warum sie so beharrlich eine
- Sekte bleiben wollen. Melvin Curry formulierte das wie folgt:
- "Man kann mit Fug und Recht sagen, dass der Millenarismus das
- ausschlagge-bende Moment bei vielen nderungen der Lehre und
- der Organisa-tionsstruktur gewesen ist"(#3#). Doch damit geht
- Curry noch nicht weit genug. Es gilt festzuhalten, dass Jeho-
- vas Zeugen einzig aufgrund ihrer millenaristischen Eschatolo-
- gie (mit all ihren Begleiterscheinungen) zu der heutigen
- weltweiten Bewegung mit beachtlicher Anhngerschaft wurden,
- und auch ihre besonderen organisatorischen und soziologischen
- Eigentmlichkeiten htten sie ohne diesen Faktor heute nicht.
- Keine andere grssere christliche Sekte hat so beharrlich das
- Ende der gegenwrtigen Welt vorausgesagt, mit solcher Ein-
- deutigkeit und unter Nennung konkreter Daten, wie es die
- Zeugen Jehovas getan haben; zumindest gab es das seit seit den
- Tagen William Millers und der Adventisten (besonders der
- Gruppe der Second Adventists) im 19. Jahrhundert nicht, den
- unmittelbaren millenaristischen Vorlufern der Zeugen Jehovas.
- In den frhen Abschnitten ihrer Geschichte haben sie immer
- wieder bestimmten Jahren - 1874, 1878, 1881, 1910, 1914, 1918,
- 1920, 1925 und anderen - eine klar umrissene eschatologische
- Bedeutung zu-geschrieben. Charles Taze Russell, ihr Grnder,
- Organisator und der erste Prsident der Watch Tower Society
- (ihrer wichtigsten gesetzlichen Krperschaft) glaubte anfangs,
- vom Jahr 1874 an sei Christus "unsichtbar gegenwrtig", im
- Jahr 1878 (spter 1881) wrde sich die "Verwandlung" der
- Mitglieder der Gemeinschaft vom fleischlichen in den geistigen
- Leib vollziehen, und im Jahr 1910 sollten die weltweiten
- Wirren beginnen, die schliesslich 1914 das Ende der Welt
- bringen wrden. Als diese Voraussagen fehlschlugen, mussten
- sie umgedeutet, vergeistigt oder - teilweise - schliess-lich
- fallengelassen werden(#4#). Das hielt aber Russell und seine
- Nachfolger nicht davon ab, neue Daten festzulegen oder einfach
- zu verknden, das Ende dieser Welt oder dieses Systems der
- Dinge stnde binnen weniger Jahre, mglicherweise sogar Monate
- bevor. Melvin Curry schreibt sehr treffend: "Die biblische
- Chronologie ist die Knetmasse der Millenaristen. Sie lsst
- sich ziehen und dehnen, bis sie auf jeden gewnschten Zeitplan
- passt, oder man macht aus ihr einen Wust von Zahlen und Daten,
- so dass sich aus dem ursprnglichen Klumpen Voraussagen formen
- las-sen"(#5#). So kommt es, dass die Bibelforscher bzw. Zeugen
- Jehovas seit ber 100 Jahren stets dieselbe grundlegende
- Botschaft verknden, die da lautet: "Das Ende ist nahe. Bald
- wird Christus sich offenbaren und alle Nationen vernichten
- sowie jeden, der seinem messianischen Knigreich widersteht."
- Offensichtlich kam der Weltuntergang zum erwarteten Zeitpunkt
- nicht; man musste ihn eines um das andere Mal verschieben.
- Doch paradoxerweise hat sich das fr die Bibelforscher/Zeugen
- genausosehr als Vorteil wie als Nachteil erwiesen. Zwar gab es
- in den Reihen der Anhngerschaft manche "Sichtung", weil die
- Enttuschung gross war, wenn die Prophezeiungen mit genauen
- Jahresangaben verbunden waren und sich dann nicht erfllten.
- Doch wie schon zuvor bei den Second Adventists argumentierte
- die Fhrung der Bibelforscher/Zeugen stets, es sei "das Un-
- richtige zur richtigen Zeit" geschehen. Trotz aller gegen-
- teiliger Fakten wird bis heute behauptet, der von ihr vor-
- gelegte Heilsplan und die Zeitplne fr das Ende der heutigen
- und den Anbruch der neuen Welt seien korrekt oder zumindest
- annhernd korrekt. Gott habe also tatschlich "neues Licht"
- gegeben oder "gegenwrtige Wahrheit" und damit ihnen und
- allen, die darauf hren, besondere Gunst erwiesen. Wer daher
- Gottes Wohlwollen wnsche, msse in enger Verbindung mit denen
- bleiben, die die wahre Bedeutung des gttlichen Plans kennen -
- dem "Kanal" oder der "Organisation" Gottes -, automatisch also
- auch mit denen, die darin die Fhrung innehaben.
- Eine derartige Berufung auf ein Sonderwissen, eine Art Gnosti-
- zis-mus, hat es durch die Jahrhunderte hindurch bei etlichen
- jdischen, christlichen und islamischen Gruppen gegeben. Man
- erinnere sich nur an die kabbalistischen Messiasse wie Abraham
- Abulafia, Solomon Molka und Sabbatai Sevi im Judentum; an die
- Montanisten, die Wiedertufer von Mnster, die Mnner der 5.
- Mon-archie im England Cromwells, die Miller-Bewegung, die
- Adventi-sten, Mormonen und andere christliche Gruppen, dazu
- die Mahdi-Tradition im Islam, die das allesamt besttigen. Es
- ist auch relativ leicht einsichtig, weshalb solche Bewegungen
- im Rahmen der historisch-prophetischen Tradition der grossen
- monotheisti-schen Religionen des Vorderen Orients entstanden
- sind, deren Kos-mologien sich von denen der grossen Religionen
- des Ostens so sehr unterscheiden. Verluft nmlich die Weltge-
- schichte - wie die grossen monotheistischen Religionen es
- sagen - wirklich zielge-richtet und hat einen tieferen Sinn,
- dann ist es wichtig, etwas ber das Warum, Wie, Wo und Wann zu
- wissen. Wer die Antworten auf diese Fragen kennt, kann be-
- anspruchen, ein Sonderwissen und damit eine besondere Autori-
- tt zu besitzen.
- Nicht nur religise Bewegungen und ihre Fhrer haben propheti-
- sche Autoritt oder Vergleichbares beansprucht; dasselbe gab
- es auch bei profanen Strmungen. Mit Sicherheit haben Marx und
- seine Nachfolger dies fr ihre Lehre des historischen Determi-
- nismus getan, und hnlich, wenn auch in geringerem Masse, war
- es bei verschiedenen faschistischen Bewegungen. Die Hegelsche
- Dialektik, Basis des "wissenschaftlichen Sozialismus", hat
- ihre Wurzeln in der jdisch-christlichen Auffassung vom linea-
- ren Voranschreiten der Geschichte, und Hitlers Traum vom
- "tausendjhrigen Reich" knpfte an die jdische Apokalyptik,
- das Bibelbuch Offenbarung und die Lehren der frhchristlichen
- Kirchenvter an. Sowohl Marxismus wie Faschismus lassen sich
- daher durchaus zu Recht als quasireligise Bewegungen bezeich-
- nen, deren Fhrer quasireligise oder prophetische Autoritt
- beanspruchten.
- Die Ansprche von Bewegungen prophetischen Charakters, wozu
- alle bisher erwhnten zu zhlen sind, fhren hufig in einen
- Totalita-rismus. Wer daran zweifelt, dass die Gruppe im Besitz
- DER Wahrheit ist, macht sich damit zum Feind Gottes, des
- Lichts, der gttlichen Offenbarung, der Geschichte, des Vol-
- kes, der Nation oder was immer sonst von den prophetischen
- Fhrern als Basis ihrer Autoritt ausgegeben wird. Man wird
- also gezwungen, Stellung zu beziehen: Jeder muss fr die
- Fhrung sein oder gegen sie, ein Kind des Lichts oder ein Kind
- der Dunkelheit. Darum haben solche prophetischen Bewegungen im
- Laufe ihrer Entwicklung einen immer strker werdenden Fh-
- rungsanspruch erhoben und ihre Anhnger zunehmend diszipli-
- niert. Das fhrte schliesslich zu einer immer strkeren Ab-
- kapselung gegenber der Aussenwelt. Genau so ist es bei den
- Zeugen Jehovas abgelaufen. Die Bewegung der Bibelforscher, wie
- man die Zeugen in ihrer Anfangszeit nannte, war verhltnis-
- mssig liberal, das heisst, sie glaubte, auch andere Chri-
- sten - insbesondere verschiedene protestantische Richtungen -
- seien Teil der Kirche Christi und knnten errettet werden.
- Doch im Laufe der Zeit gewannen Russell und seine Anhnger die
- innere Gewissheit, dass er eine besondere Rolle spielte: Er
- war der der "Knecht" aus Matthus 24, 45-47, der "Speise zur
- rechten Zeit" an den Haushalt des Glaubens austeilen sollte.
- So kam es, dass er ab dem ersten Jahrzehnt des 20. Jahrhun-
- derts seiner Herde statt der freien Bibelbetrachtung ein
- gelenktes Bibelstudium empfahl, sogenannte Berer-Studien; im
- Jahr 1910 behauptete er gar, seine Schriftstudien seien nichts
- Geringeres als die Bibel selbst, nur thematisch angeord-
- net(#6#). Russell bemhte sich aber stets noch darum, seine
- Anhnger zu berzeugen; er zwang sie nicht. So blieb es seinem
- Amtsnachfolger, Richter Joseph F. Rutherford, berlassen, in
- den Jahren 1917 bis 1938 die Umwandlung von den Bibelforschern
- mit ihren unabhngigen Gemeinden zu den Zeugen Jehovas mit
- streng gegliederter "theokratischer" Herrschaft zu vollziehen.
- Bei den Zeugen Jehovas spielte sich genau das ab, was Leo
- Trotzki ber die kommunistische Partei unter Lenin sagte(#7#).
- Aus einer demokratisch verfassten, verhltnismssig weitgef-
- cherten Bewe-gung entwickelten sie sich zu einer Organisation,
- die von einem einzelnen beherrscht wurde, einem Diktator. So
- berrascht es nicht, wenn mindestens einer der Erforscher der
- Zeugen Jehovas aus der Zeit nach Rutherford, Werner Cohn, sie
- mit verschiedenen totalitren Bewegungen vergleicht.
- Cohn schrieb vor ber 30 Jahren in einem Aufsatz der Zeit-
- schrift The American Scholar, er habe die Zeugen Jehovas nach
- genauer Untersuchung soziologisch in dieselbe "proletarische"
- Kategorie einordnen knnen, in der sich auch mehrere radikale
- religise Sekten, die traditionelle deutsche Jugendbewegung
- (die Wanderv-gel), eine Anzahl zionistischer Jugendgruppen
- sowie die Nazis und die Kommunisten befanden(#8#). Er meinte
- damit, dass sie eine Gruppe von Aussenseitern sind, die sich
- der Gesellschaft, in der sie leben, kaum noch zugehrig fh-
- len. Er klassifizierte sie aber nicht nur, sondern erforschte
- und analysierte auch die chiliasti-sche Eschatologie und die
- utopischen Visionen, auf die sich die Gemeinschaft im wesent-
- lichen grndet, und beschrieb ihr durch und durch totalitres
- System der "theokratischen Regierung". Cohn schreibt:
-
- Die Zwiebelgestalt der Herrschaftsstruktur bei den Zeugen
- Jehovas ist fast genau dieselbe wie bei den totalitren
- Gruppen. Es gibt die Fhrer und die sie umgebende Elite;
- dann gibt es mehrere Klassen von Unterfhrern sowie unter-
- schiedliche Gruppen von Fussvolk. Einige davon sind in-
- stitutionalisiert: so die "Pioniere", die "Sonderpioniere"
- und die "Versammlungsverkndiger" (niederster Rang). Doch
- die verschiedenen Schichtungen sind als Ganzes weder
- institutionalisiert noch sind sie unvernderlich. Das
- erinnert an die Nazis, bei denen es zwar mehrere offizielle
- Gruppen unter den Anhngern gab - die SA, die SS und deren
- verschiedene Sonderformationen, um nur einige zu nennen -,
- bei denen aber die Schichtung des Gesamtgefges abhngig
- davon war, wie Partei, Gestapo und Militr gerade zuein-
- ander standen, zudem noch von der Identifikation mit einer
- konkreten Fhrungsgruppe. hnlich liegen die Verhltnisse
- bei den Zeugen(#9#).
-
- Cohns Analyse hat zweifellos ihre Gltigkeit, wenn sie auch
- einem Aussenstehenden, dem die Zeugen Jehovas als "friedlie-
- bende Menschen und hilfreiche Nachbarn" in Erinnerung sind,
- etwas zu streng erscheinen mag. Htte er den Vergleich etwas
- weniger eng gefasst, dann wrde die Analyse wohl nicht so
- schroff klingen. Haben nicht das ganze Sektenwesen, das Stre-
- ben nach Exklusivitt und der Totalitarismus vielfltige
- Wurzeln in den grossen monotheistischen Traditionen der Ver-
- gangenheit und Gegenwart? Ist nicht das Konzept des erwhlten
- Volkes im Judaismus im Grunde sektiererisch? War das frhe
- Christentum bis zur Kreuzigung Christi nicht ein Kult und bis
- in die Zeit Kaiser Konstantins eine Sekte? Hat sich die kol-
- lektive Fhrung der Kirche unter den Aposteln und ltesten
- nicht recht schnell zur monarchischen Herrschaft der Bischfe
- entwickelt? Waren zur Zeit der Refor-mation die Katholiken,
- Calvinisten, Anglikaner und schliesslich auch die wohlwollen-
- deren Lutheraner nicht bereit, Hretiker hinrichten zu lassen?
- Und war nicht die Lehre extra ecclesiam nulla salus in ihren
- Dutzenden von Ausprgungen und Formulierun-gen gleichbedeutend
- mit Loyalitt gegenber der Fhrung,
- Geistlichkeit, Hierarchie usw. einer Sekte oder auch einer
- grossen Kirche wie der von Rom? Was Cohn also ber die Zeugen
- Jehovas sagt, liesse sich genauso von vielen Religionen und
- politischen Bewegungen des Abendlandes sagen. Das schmlert
- den Wahrheitsgehalt seiner Analyse keineswegs, sondern stellt
- sie lediglich in einen weiteren historischen Bezugsrahmen.
- Auf einem wichtigen Gebiet aber sind Jehovas Zeugen einzig-
- artig: Sie predigen das Tausendjahrreich lnger und beharr-
- licher als jede andere grssere Sekte der Neuzeit. Der Chili-
- asmus ist seit Jahrhunderten schon gemeinsames Merkmal zahl-
- reicher Bewegungen, doch zumindest in seiner rein religisen
- Form musste er nach relativ kurzer Zeit heruntergespielt,
- vergeistigt oder ganz fallengelassen werden. Ende des zweiten
- Jahrhunderts war die Kirche bereits weit entfernt von der
- chiliastischen Naherwartung des ersten Jahrhunderts. Extreme
- Chiliasten wie Papias und die Montanisten waren den gemssig-
- ten Christen peinlich(#10#), und im Ostteil des Rmischen
- Reichs genoss das Bibelbuch Offenba-rung unter Klerikern eine
- Zeitlang nur geringes Ansehen. Auch als der Chiliasmus whrend
- des Hochmittelalters, der Reformation und im 17. Jahrhundert
- wieder populrer wurde, trat er als Lehre kaum je so stark
- hervor, dass man an ihm lnger als etwa eine
- Generation festhielt. Und selbst dann sagte man die Wieder-
- kunft Christi und den Beginn des Tausendjahrreichs meistens
- fr irgendeine ferne Zukunft voraus(#11#). Die Entwicklung
- chiliastischer Bewegungen verlief also im allgemeinen nach dem
- Muster, dass sie ihre chiliastischen Aussagen entweder zurck-
- nahmen, sie totschwiegen oder wesentlich vernderten, wie es
- der Fall war bei den Siebten-Tags-Adventisten, den Heiligen
- der Letzten Tage und vielen Fundamentalisten, oder sie sonder-
- ten sich von der Gesellschaft ab, wie bei den Christadelphia-
- nern gesche-hen. berraschenderweise ist das bei Jehovas
- Zeugen nicht eingetreten, die trotz vieler Fehlschlge und
- Schwierigkeiten nach ber hundert Jahren immer noch verknden,
- das Tausendjahr-reich stehe kurz bevor, und die bei all dem
- auf eine Bewegung mit weltweit rund vier Millionen Aktiven und
- einer weiteren Gefolg-schaft von mehreren Millionen angewach-
- sen sind.
- Die Zeugen haben ein hochentwickeltes Druck- und Verlagsimpe-
- rium aufgebaut, schicken Missionare in alle Welt und haben
- eine straff organisierte Hierarchie, die die Gemeinschaft
- leitet; all das ist das Ergebnis des Wirkens der Watch Tower
- Bible and Tract Society of Pennsylvania, ihrem wichtigsten
- juristischen Organ. Trotz ihrer sektiererischen Haltung ben
- sie bis heute auf die vielen Gesellschaftssysteme, in deren
- Mitte sie leben, einen starken Einfluss aus, vor allem in der
- englischsprechenden Welt. Einen wesentlichen Einfluss auf das
- Verfassungsrecht hatten sie insbesondere in den USA und in
- Kanada, wo sie viel zur Ausweitung der brgerlichen Grundrech-
- te beigetragen haben, so bei der Rede-, Religions- und Presse-
- freiheit. In zahlreichen Lndern haben sie auch wesentlich
- daran mitgewirkt, dass man Kriegsdienstver-weigerer aus Gewis-
- sensgrnden entschieden ernster nahm als bis dahin b-
- lich(#12#). Und schliesslich sind sie als Kritiker gngiger
- medizinischer Praktiken aufgetreten und haben sich zugleich
- als Versuchskaninchen zur Verfgung gestellt, weil sie Blut-
- transfusionen verweigern. Ihre Geschichte, ihr Lehrgebude,
- der Aufbau ihrer Gemeinschaft und ihre derzeitigen Probleme
- sind darum von einer Bedeutung, wie sie heute nur von wenigen
- vergleichbaren Sekten erreicht wird.
- Die Geschichte der Zeugen Jehovas besteht nicht nur aus Erfol-
- gen. In den letzten Jahren scheinen Zeit und Umstnde ihren
- Tribut zu fordern. Sie knnen sich nicht mehr - wie noch in
- den 50er und 70er Jahren - rhmen, die am schnellsten wachsen-
- de christliche Religionsgemeinschaft zu sein. Genauso wenig
- knnen sie behaup-ten, in ihrer Gemeinschaft herrsche Einig-
- keit. Heute gibt es bei ihnen kleine, aber bedeutsame Schis-
- men, und wie nie zuvor in ihrer Geschichte werden sie von
- ehemaligen Anhngern analysiert und kritisiert.
- Jehovas Zeugen sind in vielfacher Hinsicht erstarrt. Sie
- evangelisieren nun schon viele Jahrzehnte nach genau denselben
- Methoden, ohne nennenswert auf gesellschaftliche oder techni-
- sche Vernderungen einzugehen. Neuen Denkanstzen stehen sie
- immer feindseliger gegenber, ebenso allem Intellektuellen und
- den selbstndig Denkenden in ihren eigenen eigenen Reihen. Und
- was noch bedeutsamer ist, ihre Fhrungsspitze ist zu einer
- sich nicht mehr regenerierenden Kaste geworden, die sich aller
- konstruktiven Kritik praktisch vllig verschliesst.
- Wie ernst die Lage ist, zeigt sich an dem, was ihnen seit 1975
- widerfahren ist. Dieses Jahr hatten fhrende Persnlichkeiten
- der Zeugen, allen voran der damalige Vizeprsident der Watch
- Tower Society, neun Jahre lang als das wahrscheinliche Datum
- fr das Weltende verkndet, und eine neue chiliastische Erre-
- gung hatte die Gemeinschaft erfasst. Die Zahl der neugewonne-
- nen Anhnger war daraufhin emporgeschnellt, vor allem in den
- Jahren 1968 bis 1975. Doch wie schon so oft wurden die Zeugen
- enttuscht: wieder einmal kam der Weltuntergang nicht wie
- erwartet. Und wieder gab es eine "Sichtung" unter den Anhn-
- gern, diesmal trennten sich Hunderttau-sende. Zudem war die
- alternde Fhrungsriege nicht in der Lage, eine zufriedens-
- tellende Stellungnahme zu dem, was 1975 nicht eingetreten war,
- abzugeben. Mehrere Jahre lang hatte die Watch Tower Society
- als Erkrung fr ihren letzten Fehlschlag nichts weiter zu
- bieten als das, was sie bereits vor 1966 verworfen hatte.
- Doch die Fhrer bemhten sich, die Aufmerksamkeit ihrer Herde
- allmhlich davon abzulenken, indem sie erneut das Evangelisie-
- rungswerk hervorhoben: Noch mehr Menschen mssen eine Gelegen-
- heit erhalten, die gute Botschaft zu hren, dass binnen kurzem
- das Millennium fr eine Menschheit anbrechen wird, die nicht
- damit rechnet, und nur Jehovas Zeugen werden in der Schlacht
- von Harmagedon von dem Zorn Gottes verschont bleiben. Seltsa-
- merweise allerdings unternimmt die gegenwrtig amtierende
- leitende Krperschaft keinerlei ernsthafte Anstrengung, ihren
- Zeitplan fr das Weltende zu berarbeiten. Bis heute lehrt die
- Watch Tower Society wie schon seit Jahrzehnten, das Ende msse
- kommen, bevor die Generation vergangen sei, die 1914 alt genug
- war, die damaligen Ereignisse wahrzunehmen (dieses Jahr wird
- heute als der Beginn der unsichtbaren Gegenwart Christi und
- der Aufrichtung seines himmlischen Reiches angegeben). Eine
- Minderheit innerhalb der leitenden Krperschaft versuchte zwar
- vor wenigen Jahren, das Basisdatum 1914 auf 1957 zu verschie-
- ben, doch dem mochte sich die Mehrheit nicht anschliessen. Die
- Zeugen Jehovas mssen also befrchten, dass ihnen bald ein
- weiterer Fehlschlag einer Zeitprophezeiung ins Haus steht.
-
- Auf den folgenden Seiten wird daher der Versuch unternommen,
- einen allgemeinen berblick ber Geschichte, Lehren und Aufbau
- der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas seit ihren Anfngen in der
- zweiten Hlfte des 19. Jahrhunderts zu geben und zu zeigen,
- dass ihr im wesentlichen adventistischer Chiliasmus, der lange
- Zeit hindurch die Grundlage ihres Wachstums und Erfolgs war,
- zugleich ihre grsste Schwche ist. Da sich der Weltuntergang
- seit mehr als 100 Jahren immer wieder hinauszieht, womit sie
- nie und nimmer gerechnet hatten, sind sie unfhig, sich ange-
- messen auf die Weltereignisse einzustellen und ihren Platz in
- einer Welt zu finden, die ihrer Ansicht nach "in allen Fugen
- chzt und knarrt".
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-
- aus Kapitel 4: Prophetic Failure, Reaction, and Rebellion
-
- Seite 123-127: Jehovas Zeugen heute
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- Man irrt, wenn man meint, die Schwierigkeiten, die sich aus
- dem Fehlschlag von 1975, der Reglementierung in der Organisa-
- tion, den Schwankungen in der Lehre und der Revolte kleinerer
- Gruppen unter den Zeugen - insbesondere in der westlichen Welt
- - ergaben, htten grssere Schismen innerhalb der Zeugen
- Jehovas zur Folge gehabt. Im Jahr 1979 begann wieder ein
- leichter zahlenmssiger Anstieg(#13#), und 1981 gab es schon
- 3,7 Prozent Zunahme in der weltweiten Zahl der Verkndi-
- ger(#14#). Im Jahrbuch der Zeugen Jehovas 1981 schilderte man
- daher die Vorgnge in der Organisation in den vorhergehenden
- Jahren in den rosigsten Farben und rhmte sich unehrlicherwei-
- se: "Whrend der vergangenen sieben Jahre, von 1974 bis ein-
- schliesslich 1980, gab es stetigen Fortschritt bei Jehovas
- Zeugen"(#15#). Zum Nachweis dieses "stetigen Fortschritts"
- verffentlichte man mehrere Grafiken, die in der Tat einen
- gewissen Zuwachs in der Gemeinschaft fr diesen Zeitraum
- ausweisen(#16#). Doch weder die Wachtturm-Gesell-schaft noch
- die Zeugen Jehovas sind so gesund, wie sie es andere glauben
- machen wollen. Das Wachstum seit 1975 ist wahrlich nicht
- aufregend, vor allem, wenn man es an dem Einsatz misst, mit
- dem sie versuchten, Menschen zu bekehren. Und das ist nur die
- eine Seite. Trotz dieses Wachstums kann man sagen, dass Jeho-
- vas Zeugen eine kranke Religionsgemeinschaft sind. Sie haben
- hart an internen Problemen zu kauen, die von der Fhrungsmann-
- schaft nicht eingestanden, geschweige denn befriedigend gelst
- werden. Und was am bedrohlichsten fr sie ist: in ihren Reihen
- herrscht ein stndiges Kommen und Gehen. ber diese Tatsache
- bewahrt die Gesellschaft eisernes Stillschweigen, und die
- meisten Zeugen nehmen sie gar nicht wahr. Darber hinaus
- verlieren sie, wie Havor Montague so klar zeigt, stndig ihre
- gebildetsten und intelligentesten Anhnger. So kommt es, dass
- nach jahrelanger Abwanderung der besten Kpfe die oberen Rnge
- der Watch-Tower-Hierarchie intellektuell grossenteils ausge-
- trocknet sind, und es gibt kaum noch wirklich fhige Leute,
- auf die man sich sttzen knnte.
- Frederick W. Franz ist mit seinen fast 100 Jahren immer noch
- der Chefideologe der Bewegung und bt den beherrschenden
- Einfluss aus. Von anderen Mitgliedern der leitenden Krper-
- schaft wird er buchstblich als Quell der Wahrheit angesehen.
- Einer sagte wrtlich: "Er ist seit 67 Jahren unser Ora-
- kel"(#17#). Franz aber zeigt sich nicht willens, Vernderungen
- in die Wege zu leiten. In einer Ansprache vor der gesamten
- Bethelfamilie am 25. Mai 1980, in der er auf das Festlegen von
- Daten und das Schren von Erwartungen einging, sagte er:
- "Manche erwarten von mir, die Bedeutung der Weltereignisse in
- den letzten 67 Jahren einfach zu ignorieren und wieder dort
- anzufangen, wo wir vor 67 Jahren begonnen haben"(#18#) - wozu
- weder er noch seine Amtskollegen bereit sind. Es hat daher den
- Anschein, dass die leitende Krperschaft und die oberen Rnge
- der Watch Tower Society derzeit an einer schweren Organisa-
- tions-Arteriosklerose leiden und sich bei ihnen eine Form von
- hybris oder geistigem Hochmut zeigt, die sehr wohl die Lebens-
- fhigkeit der ganzen Gemeinschaft in Frage stellen kann. Das
- zeigt sich zum Beispiel darin, dass die Watch-Tower-Fhrung
- ihre Autoritt um fast jeden Preis behaupten will. Sie besteht
- auf dem Gehorsam gegenber allem und jedem, was sie einmal
- festgelegt hat, und das hat wahrhaft talmudischen Umfang.
- Albert Schroeder, einer der Jngeren in der leitenden Krper-
- schaft und einer der entschlossensten Bekmpfer von "Abtrnni-
- gen", rief anlsslich einer Ansprache vor Mitarbeitern im
- Bethel Brooklyn, die kurz nach dem Hinauswurf von Raymond
- Franz, Edward Dunlap und den anderen stattfand, folgendes aus:
-
- Wir dienen nicht nur Jehova Gott, sondern unterstehen
- auch unserer "Mutter" [der Organisation]. Unsere "Mutter"
- hat das Recht, Regeln und Vorschriften fr uns festzule-
- gen. ... Dieses Buch, das den Titel trgt Branch Office
- Procedure [Geschftsordnung der Zweigbros], enthlt 28
- Themen, und in den Unterkapiteln stehen Regelungen und
- Verwaltungsvor- schriften. ber 1177 Leitlinien und Rege-
- lungen sind darin enthalten [...] dies ist eine verbes-
- serte, aufs Feinste abgestimmte Organisation, und von uns
- allen wird erwartet, dass wir ihre Anweisungen befolgen.
- Wenn jemand meint, er knne sich diesen Vorschriften und
- Regelungen, die jetzt gelten, nicht unterwerfen, dann
- sollte er gehen und am weiter voranschreitenden Werk hier
- keinen Anteil mehr haben.
- Einige sind von der Organisation - nicht von der Bibel -
- abgefallen mit der Begrndung, dass es nicht ntig sei,
- sich dem Gesetz zu unterstellen [...] Dieses grossartige
- organisatorische Vorhaben versammelt die Dinge im Himmel
- und auf der Erde(#19#).
-
- Seit dieser Aussage Schroeders betont die Gesellschaft ihre
- geistliche Autoritt immer strker. Eine Wachtturm-Ausgabe
- nach der anderen enthlt Argumente - von denen einige so
- schludrig erarbeitet wurden, dass sie regelrecht dumm
- sind(#20#) -, die erklren, weshalb Jehovas Zeugen der Wacht-
- turm-Hierarchie loyal ergeben bleiben sollen, komme, was da
- wolle. Ausserdem prahlt man damit, dass der "gesalbte ber-
- rest" der 144 000 Zeugen Jehovas mit himmlischer Hoffnung in
- seiner Eigenschaft als "treuer und verstndiger Sklave" alle
- aus der Organisation ausgestossen hat (selbstverstndlich
- durch das Wirken der leitenden Krperschaft), die ihr nicht
- treu ergeben sind. "Er hat die Tr vor allen ausgestossenen
- Abtrnnigen versperrt und vor allen, die sich einschleichen
- wollten, um Jehovas Zeugen zu verderben"(#21#). Zustzlich
- verschrfte die Gesellschaft die Anweisungen, wie die normalen
- Zeugen sich gegenber ausgeschlossenen Personen
- verhalten sollten. Wie bei so vielen Lehren und Verhaltens-
- mass-regeln gab es auch auf diesem Gebiet mehrfach nderungen.
- Von den 1950er Jahren an bis 1974 durften die Zeugen zu je-
- mand, der offiziell aus ihrer Gemeinschaft ausgestossen war,
- nicht einmal "Guten Tag" sagen. Im Watchtower vom 1. August
- 1974 (Wachtturm vom 1. November 1974) verkndete die Gesell-
- schaft dagegen eine erheblich abgemilderte Linie. Dort rumte
- man sogar ein, dass einige Ausgeschlossene unntig grausam
- behandelt worden wa-ren(#22#). Doch dann vertrat man im Watch-
- tower vom 15.
- September 1981 (Wachtturm vom 15. Dezember 1981) eine noch
- hrtere Position als vor 1974. In dieser Ausgabe verlangte man
- gar, dass die Zeugen praktisch alle Bindungen zu Familienmit-
- gliedern kappen sollten, wenn sie ihren guten Ruf in der
- Gemeinde bewahren wollten; selbst die eigenen Eltern und
- volljhrigen Kinder sollten so behandelt werden, ausser in
- extremen Notsitua-tionen(#23#).
- Wie nur zu erwarten war, hat dies alles bei vielen eher zu
- einer Schwchung des Glaubens statt einer Strkung beigetra-
- gen. Wachsender Widerspruch in den eigenen Reihen sowie die
- laut-starken Beschimpfungen und Repressalien der leitenden
- Krper-schaft gegen "Abtrnnige" haben einerseits bewirkt,
- dass die Loyalisten nur noch fester zur Wachtturm-Gesellschaft
- halten, viele andere aber hat es abgestossen und angewidert.
- Im Zuge der Suberungswelle im Bethel Brooklyn im Frhjahr
- 1980 sind nach mehreren Berichten offenbar weit ber 50 Mit-
- arbeiter der
- Weltzentrale der Zeugen Jehovas aus der Organisation ausge-
- schie-den. Seither haben viele Tausende Zeugen Jehovas in der
- ganzen Welt offen mit der Watch Tower Society gebrochen und in
- vielen Fllen unabhngige Gemeinschaften und Studiengruppen
- gebildet. Ohne Zweifel haben die drakonischen Massnahmen, die
- im Watchtower vom 15. September 1981 beschrieben wurden, dazu
- gefhrt, dass viele die Organisation verlassen haben oder sie
- derzeit ver-lassen. Die Zahl der Verkndiger hat im Berichts-
- jahr 1983 wie schon in den vier vorangehenden Jahren zugenom-
- men - ein Erfolg des Nachdrucks, den die Gesellschaft auf das
- Proselytenmachen legt. So wird fr den Zeitraum September 1982
- bis August 1983 weltweit ein Zuwachs von 6,8 Prozent an Ver-
- kndigern behaup-tet(#24#). Was die Allgemeinheit aber nicht
- erfhrt, ist, dass im September 1981, genau dem Monat, in dem
- die Gesellschaft die neuen Regelungen bekanntgab, nach denen
- der Umgang mit allen, die ausgeschlossen wurden oder sich aus
- der Organisation
- zurckgezogen hatten, untersagt wurde, allein in den USA 8
- Prozent weniger Zeugen Jehovas aktiv waren. Konkret: damals
- beteiligten sich 47 318 weniger amerikanische Zeugen Jehovas
- am ffentlichen Predigen als im Monat davor(#25#). Selbst dem
- optimistischsten Wachtturm-Getreuen muss auffallen, dass hier
- offensichtlich etwas schwer im Argen liegt.
- Aber auch wenn einige ehemalige Zeugen Jehovas meinen, die
- Gesellschaft habe damit "ihr eigenes Grab geschaufelt", steckt
- doch noch sehr viel Leben in dieser Gemeinschaft, die schon so
- viele Schicksalschlge erlebt hat. Zudem besteht die Mglich-
- keit, dass sie sich als Gemeinschaft zu etwas vllig anderem
- entwi-kelt, als was sie heute ist, wenn erst einmal eine neue
- Fhrungs-mannschaft etabliert ist, die die bestehenden Proble-
- me mit Erfolg anpackt.
-
-
-
-
-
- aus Kapitel 5: Relations with the World
-
- S. 146-149: Kompromisse der Zeugen mit der Welt
-
- Dem bisher Gesagten knnte man entnehmen, die Zeugen Jehovas
- htten an ihrer Grundlehre, sich in den Angelegenheiten der
- Welt neutral zu verhalten und mit den weltlichen Mchten in
- Glaubens-dingen keine Kompromisse einzugehen, mit bewunderns-
- werter Standhaftigkeit festgehalten, auch wenn das manchmal
- noch so dogmatisch ausgesehen haben mag. Allein die Tatsache,
- dass man sie fast stndig irgendwo verfolgt, scheint das
- auszuweisen. Doch darf man aus der Tatsache, dass sie sich
- immer wieder damit brsten, "Jehova treu geblieben" und sich
- "von der Welt getrennt" gehalten zu haben, nicht folgern, dass
- sie im Umgang mit weltli-chen Regierungen immer bei ihren
- Grundstzen geblieben wren. In drei bemerkenswerten Fllen
- haben die Fhrung der Wachtturm-Gesellschaft und auf ihr
- Geheiss hin viele einzelne Bibelforscher und Zeugen Kompromis-
- se mit Regierungen geschlossen oder versucht, dies zu tun, und
- das ganz im Widerspruch zu ihren Lehrstzen. Das erste Mal kam
- es dazu im Frhjahr 1918, als der Leitung der Wachtturm-Ge-
- sellschaft in den USA aufgrund der Bestimmungen des US-Spiona-
- gegesetzes eine Haftstrafe verbsste. Richter Rutherford und
- seine Kollegen, die zuvor ganz entschieden gegen die
- Beteiligung der Bibelforscher am Ersten Weltkrieg auf Seiten
- der Alliierten gewettert hatten, offenbarten in den Watch-
- tower-Ausgaben vom 1. und 15. Juni 1918 eine erheblich kom-
- promiss-bereitere Einstellung. Sie riefen die Bibelforscher
- darin zur Teilnahme an einem nationalen Tag des Gebets in den
- USA auf, in dem fr den Sieg der Alliierten ber die "Allein-
- herrschaft" der Deutschen gebetet werden sollte(#26#), und die
- Wachtturm-
- Gesellschaft liess nun verlauten, dass der Erwerb von "Liber-
- ty-" oder Kriegsanleihen nichts mit Religion zu tun hat-
- te(#27#). Dem einzelnen Bibelforscher wurde es freigestellt,
- nach bestem Gewissen selbst zu entscheiden, ob er diese Anlei-
- hen erwerben wolle oder nicht. Sofort kam es deswegen in den
- Reihen der Bibelforscher zum Streit. Es war der Hauptgrund fr
- die Ab-spaltung der "Standhaften" in Westkanada und dem Nord-
- westen der USA(#28#). Nachdem Rutherford und seine sieben
- Mitgefangenen - im Jahr 1919 - aus dem Zuchthaus von Atlanta
- freigelassen worden waren, widerrief der Watchtower seine
- kompromittierenden usserungen von 1918(#29#), und in der
- Folgezeit schrieb man sie stets der "babylonischen Gefangen-
- schaft" zu, in die die Fhrung der Organisation gekommen
- war(#30#).
- Keine Entschuldigung hingegen gab es fr einen anderen Ver-
- such, mit den "Handlangern Satans" Kompromisse zu schliessen,
- einen Versuch, der viel schwerwiegender war. Die Leitung der
- Wachtturm-Gesellschaft versuchte nmlich, sich bei der Hitler-
- Regierung anzubiedern.
- Jehovas Zeugen haben dem Nationalsozialismus tapfer wider-
- standen, wie vielfach bereits festgestellt wurde. Eher nahmen
- sie die Qualen der Konzentrationslager im Dritten Reich auf
- sich, als dass sie ihrem Glauben abschworen. Was Historikern
- aber nicht allgemein bekannt ist und was kaum ein Zeuge selbst
- weiss, ist, dass die Fhrung der Wachtturm-Gesellschaft im
- Frhjahr 1933 versuchte, die Nazis zu beschwichtigen, indem
- sie ausdrcklich ihre Treue zu den Grundstzen der nationalso-
- zialistischen Regierung Hitlers aussprach und eindeutig anti-
- jdische Aussagen formulierte.
- Im April jenes Jahres war das Zweigbro der Wachtturm-Gesell-
- schaft in Magdeburg auf Anordnung der Regierung beschlagnahmt
- und die Zeugen fast im ganzen Reich verboten worden. Richter
- Rutherford und Nathan Knorr flogen deshalb nach Berlin und
- setzten eine
- "Erklrung" auf, die wenige Tage spter - als Rutherford und
- Knorr bereits wieder in New York waren - einem eilig zusammen-
- gerufenen Kongress von mehr als 7000 Zeugen in Berlin vor-
- gelegt wurde. Im Anschluss an diesen Kongress verteilten die
- deutschen Zeugen, getreu der Anweisung aus Brooklyn, 2,1
- Millionen
- Exemplare dieser "Erklrung" im ganzen Land; zugleich sandten
- die Verantwortlichen des Zweigbros Kopien davon an wichtige
- Regierungsbeamte(#31#). Bei der "Erklrung" handelte es sich
- allerdings nicht, wie die Wachtturm-Gesellschaft spter be-
- haupte-te(#32#), um einen zndenden Aufruf an Jehovas Zeugen,
- der Unterdrckung durch die Hitlerregierung zu widerstehen,
- sondern sie war vielmehr ein Versuch, den Nazi-Fhrer und
- seine Partei-oberen zu umzustimmen.
- Im Jahrbuch der Zeugen Jehovas fr 1974 wird eingerumt, dass
- die "Erklrung" viele auf dem Kongress in Berlin enttuschte,
- so als htten sie eine strkere, gegen die Nazis gerichtete
- Sprache erwartet. Dann wird noch ein Brief des Zweigbros an
- Adolf Hitler zitiert, der der "Erklrung" als Begleitschreiben
- beigefgt war und der folgende unwahre Aussage enthielt: "Das
- Brooklyner Prsidium der Watch Tower-Gesellschaft ist und war
- seit jeher in hervorragendem Masse deutschfreundlich. Aus
- diesem Grunde wurden im Jahre 1918 der Prsident der Gesell-
- schaft und die sieben Glieder des Direktoriums in Amerika zu
- 80 Jahren Zuchthaus verurteilt, weil der Prsident sich wei-
- gerte, zwei von ihm in Amerika geleitete Zeitschriften zur
- Kriegspropaganda gegen Deutschland zu gebrauchen." Im Jahrbuch
- 1974 wird jedoch
- behauptet, der Zweigaufseher der Gesellschaft, Paul Balzereit,
- habe den Text der "Erklrung" beim bersetzen abgeschwcht,
- und es wird unterstellt, dass er und nicht Rutherford versucht
- htte, mit den Nazis Kompromisse zu schliessen(#33#). Diese
- Dar-
- stellung ist aber bestenfalls zum Teil zutreffend.
- Balzereit mag die "Erklrung" sehr wohl "abgeschwcht" haben.
- Schliesslich waren er und die deutschen Zeugen Jehovas es,
- denen Verfolgung durch die Nazis drohte, und nicht Rutherford
- oder Knorr. Sicher unterstellt man im Jahrbuch 1974 auch zu
- Recht, dass er - oder zumindest jemand vom Zweigbro der
- Gesellschaft in Deutschland - den zitierten Brief an Hitler
- geschrieben hat. Doch dessenungeachtet erscheint die "Erkl-
- rung" im Jahrbuch der Zeugen Jehovas fr 1934 als offizielle
- Stellungnahme der
- Gesellschaft und ihres Prsidenten. Sie ist vom heutigen
- Standpunkt aus fr Zeugen Jehovas und andere ein hchst kom-
- pro-mittierendes Dokument, das dem Antisemitismus der Nazis
- und der Feindschaft gegenber Grossbritannien und den USA
- Vorschub leistet. In dem Abschnitt "Juden" heisst es in der
- Erklrung:
-
- Es ist von unseren Feinden flschlich behauptet worden,
- dass wir in unserer Ttigkeit von den Juden finanziell
- untersttzt werden. Dies ist absolut unwahr, denn bis zur
- gegenwrtigen Stunde ist auch nicht das Geringste an
- Beitrgen oder finanzieller Untersttzung fr unser Werk
- von Juden geleistet worden. Wir sind treue Nachfolger Jesu
- Christi und glauben an ihn als den Heiland der Welt. Die
- Juden dagegen verwerfen Jesus Christus vllig und leugnen
- absolut, dass er der Welt Heiland ist, der von Gott zum
- Nutzen des Menschen gesandt wurde. Schon allein diese
- Tatsache sollte gengender Beweis dafr sein, dass wir von
- den Juden nicht untersttzt werden und dass die Anschuldi-
- gungen gegen uns in bser Absicht vorgebracht wurden und
- falsch sind und nur von Satan, unserem grossen Feinde,
- herrhren knnen.
- Das Anglo-Amerikanische Weltreich ist die grsste und
- bedrckendste Herrschaft auf Erden. Hiermit ist das Briti-
- sche Weltreich, wovon die Vereinigten Staaten von Amerika
- einen Teil bilden, gemeint. Es sind die Handelsjuden des
- Britisch-Amerikanischen Weltreiches, die das Grossgeschft
- aufgebaut und benutzt haben als ein Mittel der Ausbeutung
- und der Bedrckung vieler Vlker. Diese Tatsache bezieht
- sich insonderheit auf die Stdte London und New York als
- Hauptsttzpunkte des Grossgeschfts. Dies ist in Amerika so
- offenbar, dass es in bezug auf die Stadt New York ein
- Sprichwort gibt, das heisst: "Den Juden gehrt die Stadt,
- die irischen Katholiken beherrschen sie, und die Amerikaner
- mssen zahlen." Wir haben mit den erwhnten Gruppen keinen
- Streit, sondern als Zeugen fr Jehova und in Befolgung
- seiner in der Schrift niedergelegten Gebote mssen wir auf
- die Wahrheit hierber aufmerksam machen, damit das Volk
- ber Gott und sein Vorhaben aufgeklrt werden mch-
- te(#34#).
-
- Und das war noch nicht alles. In der "Erklrung" wurde auch
- der Vlkerbund verworfen, und ausserdem hiess es: "Die natio-
- nale Regierung hat sich nun deutlich ausgesprochen gegen die
- Bedr-kung durch das Grossgeschft und gegen verkehrte reli-
- gise Einflsse in den politischen Angelegenheiten des Staa-
- tes. Genau dies ist auch unsere Stellungnahme." Sodann wurde
- verkndet: "Anstatt gegen die von der deutschen Regierung
- vertretenen Grundstze eingestellt zu sein, treten wir voll-
- kommen ein fr diese Leitstze und weisen darauf hin, dass
- Jehova Gott durch Christus Jesus die gnzliche Verwirklichung
- dieser Grundstze bringen ... wird"(#35#). Die Nazis waren
- davon natrlich, wie die Zeugen bald herausfinden sollten,
- nicht beeindruckt, und vielleicht aus rger darber, dass die
- "Erklrung" berall verbreitet wurde, leiteten sie unverzg-
- lich eine Welle der Verfolgung gegen sie ein(#36#). Dann und
- erst dann entschie-den sich Rutherford, die Gesellschaft und
- die deutsche Leitung der Zeugen Jehovas zum kompromisslosen
- Widerstand gegen den Nationalsozialismus.
- [Als drittes Beispiel wird dann der Fall Mexiko/Malawi ge-
- schil-dert, den Raymond Franz in Der Gewissenskonflikt aus-
- fhrlich dokumentiert.]
-
-
-
- aus Kapitel 9: The Witness Community
-
- Seite 288-292: Die seelische Gesundheit der Gemeindemitglieder
-
-
- Das Thema seelische Gesundheit der Zeugen Jehovas verdient
- entschieden strkere Aufmerksamkeit seitens der Forschung, als
- ihm bislang zuteil wurde. Einerseits nmlich behauptet die
- Watch Tower Society, von psychologischer Warte aus gehrten
- Jehovas Zeugen zu den Stabilsten, whrend andererseits einige
- Psychologen und Psychiater sagen, bei ihnen kmen berdurch-
- schnittlich viele Flle von Geisteskrankkeit vor.
- Fr die Sicht der Gesellschaft spricht so manches erstaunliche
- Beispiel psychologischer Widerstandsfhigkeit. So stellt Eugen
- Kogon in seinem Werk Der SS-Staat fest, dass die SS in den
- Konzentrationslagern des Dritten Reichs "psychologisch mit dem
- Problem der Bibelforscher nicht ganz fertig wurde"(#37#). Und
- nicht nur die deutschen Zeugen zeigten so aussergewhnlichen
- Mut. Die gleiche Haltung fand sich zur selben Zeit bei ihren
- Glaubensbrdern in Japan und Kanada(#38#), und seither haben
- zahlreiche weitere Gruppen aus ihren Reihen der Verfolgung
- usserst tapfer ins Angesicht gesehen. Sehr stark trifft das
- auf Malawi zu. Auch sonst gibt es wenig Grund, an der Aussage
- der Gesellschaft zu zweifeln, viele Menschen htten dadurch,
- dass sie Zeugen Jehovas wurden, grssere Zuversicht und eine
- bessere psychische Verfassung erlangt(#39#).
- Verkehrt wre es allerdings, wollte man unterstellen, es gebe
- bei Zeugen Jehovas nicht auch einige schwere psychische Pro-
- bleme. Wie bei vielen missionarisch ausgerichteten Religionen
- zu beobachten, rhmen ja auch sie sich, auf solche Menschen
- anziehend wirken, die aus soziologisch und psychologisch
- schwer belasteter Umgebung stammen, auf ehemalige Alkoholiker
- und Drogenschtige. Deshalb berrascht es nicht, wenn einige
- davon die Nachwirkungen ihrer Probleme bei der Taufe mit in
- die Gemeinschaft hineintragen. Doch auch wenn man davon einmal
- absieht, kann kaum Zweifel darber bestehen, dass das Leben
- als Zeuge Jehovas - abgesondert von der Welt - ein erhebliches
- Mass an belastendem Stress bedeutet. Es wre nicht fair, das
- einfach als Anzeichen fr einen "Mrtyrer-komplex" zu deuten,
- wie es mitunter geschieht. Zwar kommt es auch vor, dass einige
- Zeugen meinen, sie wrden verfolgt, obwohl das gar nicht der
- Fall ist, doch sie sind auch einer ganz realen Verfolgung und
- Diskriminierung ausgesetzt, die in vielem der der Juden aus-
- serhalb des Staates Israel vergleichbar ist. Von daher kann
- gewiss auch ein deutlicher psychischer Schaden rhren, vor
- allem bei Kindern(#40#).
- Darber hinaus sind sicher auch einige charakteristische
- Aspekte des Lebens als Zeuge Jehovas selbst fr einen gewissen
- Anteil an psychischen Schden verantwortlich. Aus einem Geist
- der Hingabe heraus opfern viele Pioniere ihre krperliche und
- ihre geistige Gesundheit(#41#). Mancher lteste und Verkndi-
- ger verausgabt sich bis zur Erschpfung. Die christliche Lehre
- der Selbstauf-opferung, die fr sich genommen vielleicht sehr
- lobenswert sein mag, hat auf die Ergebensten unter den Zeugen
- Jehovas eine sehr belastende Wirkung. Abtrglich ist weiterhin
- die Superfrmmig-keit, die einige zur Schau tragen, und zwar
- sowohl fr sie selbst wie auch fr die Opfer ihres bertriebe-
- nen Gerechtigkeitsdrangs. All das ist der leitenden Krper-
- schaft der Zeugen Jehovas wohlbekannt. Seit mehr als einem
- Jahrzehnt finden alljhrlich Zusammenknfte von Rechtsanwl-
- ten, rzten und Vertretern anderer akademischer Berufe, die
- selbst Zeugen Jehovas sind, mit
- Vertretern der leitenden Krperschaft hinter verschlossenen
- Tren statt. Dabei werden rechtliche und medizinische Probleme
- im Zusammenhang mit Glaubensfragen besprochen und dem obersten
- Leitungsgremium Vorschlge unterbreitet. Bei einem dieser
- Treffen hielt Dr. Lawrence Onda, Psychologe aus Kalifornien,
- ein
- unverffentlichtes Referat "Beitrge zum Thema Psychohygiene",
- worin er auf mehrere psychiatrische Untersuchungen bei Zeugen
- Jehovas hinwies und dann folgendes sagte:
-
- Und noch einen weiteren Grund dafr, weshalb es bei
- Jehovas Volk psychische Probleme gibt, mchte ich err-
- tern; ich mchte aber ausdrcklich darauf hinweisen, dass
- die folgen- den usserungen nicht missverstanden werden
- drfen. Meine Liebe, Achtung und Ergebenheit gegenber
- Jehovas wahrer Organisation sind sehr gross, doch die
- Organisation kann bereits bestehende Probleme verschlim-
- mern, statt sie abzubauen. Welche Bibellehre ist es, die
- bestehende Proble- me verschlimmert? Die von der Schuld.
- Bei Jehovas Volk wird die Einhaltung eines sehr hohen
- sittlichen Massstabs gefordert, und deswegen sind wir
- einem grsseren psycho- logischen Druck ausgesetzt. In der
- "Welt" sagt man, wenn einem etwas Schuldgefhle ein-
- flsst, soll man es ber Bord werfen. Doch wir mssen den
- hohen christlichen Massstab des Verhaltens im Familien-
- leben, im Alltag, in unserer Persn- lichkeit aufrech-
- terhalten. Sobald wir einen verkehrten Gedanken haben,
- bekommen wir Schuldgefhle. Wenn jemand aus dem Tritt
- kommt, verzweifelt er leicht und meint, ein Versager zu
- sein, weil Vollkommenheit in Geist, Krper und Denken
- nicht zu erreichen ist. Was ich sagen will, ist, dass
- manche Brder sich so sehr bemhen, Jehovas Wohl- gefallen
- zu erringen, dass sie dabei geistig krank werden.
-
- Trotz der Bedeutung solcher Aussagen, die eindeutig nahelegen,
- dass an dem vielfach zu hrenden Spruch der Wachtturm-Gesell-
- schaft, Jehovas Zeugen seien "das glcklichste Volk auf Er-
- den", nicht allzuviel sein kann, scheint sich die leitende
- Krperschaft um die psychischen Probleme der Zeugen berhaupt
- nicht kmmern zu wollen. Zwar steht sie der Psychologie und
- Psychiatrie nicht mehr ganz so ablehnend gegenber wie frher,
- als sie diese als "dmonisch" beschrieb (107), doch insgesamt
- verurteilt sie weiterhin jede Form von derartiger Therapie
- (108), am schrfsten die Hypnose (109). Zugleich wird weiter-
- hin verkndet, glcklich werde der Mensch am sichersten da-
- durch, dass er ein Zeuge Jehovas wird, auch wenn die Tatsachen
- zeigen, dass viele Zeugen in Wirklichkeit weder sehr glcklich
- noch psychisch in bester Verfassung sind.
- Diese Einstellung der leitenden Krperschaft ist allerdings
- voraussehbar, bercksichtigt man, dass deren Mitglieder glau-
- ben, einen gttlichen Auftrag auszufhren. Ihrer Meinung nach
- kann ein Zeuge, der auf Grund der Lehren und der Glaubenspra-
- xis der Wachtturm-Gesellschaft oder auch aus sonstigen Grnden
- psychische Probleme hat, normalerweise nur entweder an eigenen
- Snden oder unter Angriffen von Dmonen leiden. Dieser Auf-
- fassung begegnet man in der Gemeinschaft auf Schritt und
- Tritt, oben genauso wie unten. Leidet ein Zeuge unter schweren
- Depressionen - die auch von einem krperlichen Leiden herrh-
- ren mgen - und wendet sich an seine ltesten mit der Bitte um
- Beistand, dann forschen sie ihn hufig aus, um herauszufinden,
- ob er sich einer verborgenen Snde schuldig gemacht hat (wie
- beispielsweise der Masturbation oder des Lesens pornografi-
- scher Zeitschriften), ob er im
- persnlichen Bibelstudium nachgelassen hat, im Besuch der
- Zusammenknfte, im Haus-zu-Haus-Dienst oder oft auch, ob er
- unter irgendeinem dmonischen Zauber leidet.
- Da sich derartige Handlungen von ltesten der Zeugen weltweit
- viele, viele Male wiederholen, erhht das ganz sicher den
- Stress, der auf denen lastet, die Depressionen haben. Vor
- allem leiden diejenigen Zeugen darunter, die ohnehin schon
- wegen Unstimmigkei-ten die Wachtturm-Lehre in Frage stellen.
- Darum berrascht auch folgende Aussage von Havor Montague
- nicht: "In meiner klinischen Arbeit mit den Zeugen fiel mir
- auf, dass vor allem die gebildete-ren, die intelligenteren,
- die gewissenhafteren Zeugen emotionale Probleme haben." Monta-
- gue ist darber hinaus der Ansicht, dass "eine Anzahl sehr
- prominenter leitender Zeugen unter schweren psychischen St-
- rungen leiden, darunter mehrere Zweigaufseher, viele Mitarbei-
- ter der ehemaligen Rechtsabteilung der Gesellschaft und selbst
- einige leitende Direktoren [der Watch Tower Society]" (110).
- Es sind aber gewiss nicht allein die intelligenteren Zeugen
- Jehovas, die an psychischen Strungen leiden. Der "Dmonen-
- glaube", der in dieser Gemeinschaft so verbreitet ist, hat auf
- viele weniger intellektuell Ausgerichtete eine gewaltig nega-
- tive Wirkung. Montague stellt fest, er habe "viele Flle
- gehabt, in denen die Unterstellung eines `Dmoneneinflusses'
- dafr aus-schlaggebend war, dass ein Zeuge, der neurotisch
- war, vollends psychotisch wurde" (111). Es gibt keinen Grund,
- ihm nicht zu glauben. Nach der Lehre der Wachtturm-Gesell-
- schaft kann jeder Gegenstand, der in der "falschen Anbetung"
- benutzt wird, wie z.B. ein Kruzifix, ein Rosenkranz, ein
- religises Bild oder Buch, "dmonisiert" sein. Doch das ist
- noch nicht alles. Die Gesell-schaft behauptet auch, dass
- Kleidungsstcke, Decken, praktisch alles, was jemand gehrte,
- der mit Satan im Bunde steht, von den Dmonen benutzt werden
- kann, um Jehovas Zeugen zu verhexen. Wenn sich daher ein
- psychisch oder auch krperlich geplagter Zeuge an einen lte-
- sten um Hilfe wendet, wird dieser ihn eindringlich auffordern,
- etwas bei sich daheim zu finden, das "dmonisch" sein knnte,
- und es zu beseitigen. Dann kommt es durchaus fter vor, dass
- jemand seine Kleidung verbrennt, wertvolle Gemlde,
- Schmuckstcke oder Einrichtungsgegenstnde vernichtet und
- ganze Bibliotheken zerstrt. Manches wertvolle Erbstck geht
- auf diese Weise verloren.
- Wenn man das weiss, wundert man sich nicht zu erfahren, dass
- wissenschaftliche Untersuchungen der psychischen Verfassung
- der Zeugen ergeben haben, dass es bei Jehovas Zeugen ausge-
- prgte psychische Probleme gibt. In seinem Fachaufsatz "The
- Pessimistic Sect's Influence on Mental Health: The Case of
- Jehovah's
- Witnesses" ("Zum Einfluss pessimistischer Sekten auf die
- seelische Gesundheit am Beispiel der Zeugen Jehovas") sagt
- Havor Montague: "Der genaue Anteil an psychisch Gestrten
- unter den Zeugen Jehovas lsst sich schwer bestimmen; fest
- steht aber, dass er deutlich hher als allgemein in der Bevl-
- kerung liegt" (112). Weiter unten heisst es: "Unter Jehovas
- Zeugen gibt es schtzungs-weise etwa zehn- bis sechzehnmal so
- viele psychisch Gestrte wie unter der brigen Bevlkerung"
- (113). Diese Aussagen sind ziemlich massiv und bedrfen einer
- sorgfltigen Analyse.
- Die Untersuchung Montagues sttzt sich auf eigene Erhebungen
- und auf die mehrerer Psychiater. In zwei Studien, auf die er
- nher eingeht, wurden junge mnnliche Zeugen aus den USA und
- der Schweiz untersucht, die wegen Kriegsdienstverweigerung aus
- Gewissensgrnden inhaftiert waren. Die erste, aus der Feder
- des Amerikaners M. H. Pestor stammend, behauptet: "Acht Pro-
- zent von allen [in den USA] inhaftierten Zeugen wurden als
- psychotisch eingestuft" (114). Verfasser der zweiten war der
- Schweizer Psychiater J. von Janner, der davon spricht, dass
- viele der von ihm untersuchten Zeugen "von starker Furcht
- erfllt, introver-tiert, einzelgngerisch oder stark neuro-
- tisch" gewesen seien (115). Aus solchen Angaben kann man aber
- nicht unbedingt
- schliessen, dass Jehovas Zeugen mehr als andere Gruppen psy-
- chisch gestrt seien. Einige Aussagen in diesen Analysen
- mnnlicher Zeugen Jehovas sind so extrem, dass Zweifel an
- ihrer Objektivitt aufsteigen. Zudem sind Gefngnisaufenthalte
- im allgemeinen psychisch immer sehr belastend, so dass es
- verwundert, wie man aus diesen Untersuchungen Rckschlsse auf
- die psychische Verfassung einer ganzen Religionsgemeinschaft
- ziehen kann. Ein anderer Artikel, den Montague zitiert, ver-
- ffentlicht von John Spencer im British Journal of Psychiatry,
- ist anscheinend aussagekrftiger. Spencer sagt, er habe smt-
- liche Einweisungen in alle Psychiatrischen Kliniken Westau-
- straliens whrend eines Zeitraums von 36 Monaten Anfang der
- 1970er Jahre untersucht. Unter den 7546 Patienten mit psychi-
- schen Strungen entdeckte er 50, die er als "aktive Mitglieder
- der Gemeinschaft der Zeugen Jehovas" klassifizierte, und
- folgerte, dass auf 1000 Einwohner Westaustraliens 2,54 psych-
- iatrische Flle kommen, auf 1000 Zeugen Jehovas dieser Gegend
- aber 4,17 Flle. Mithin seien psychische Strungen bei Jehovas
- Zeugen viel hufiger als bei der brigen Bevlkerung (116).
- Man geht aber wohl nicht zu weit, wenn man die Methode, nach
- der Spencer vorging, als im hchsten Masse unzufriedenstellend
- bezeichnet. Das fngt damit an, dass er nicht definiert, was
- er unter einem "aktiven" Zeugen Jehovas versteht, und es wre
- ungewhnlich, wenn in den Krankenhausakten Westaustraliens
- zwischen Verkndigern und sonstigen Personen, die sich als
- Zeugen Jehovas bezeichnen, unterschieden wrde. Ausserdem
- ermittelte er die Gesamtzahl der Zeugen Jehovas an Hand der
- Verkndiger-statistik der Wachtturm-Gesellschaft fr diesen
- Bundesstaat und bercksichtigte nicht, dass fast jede Gemeinde
- der Zeugen Jehovas doppelt soviele oder noch mehr Menschen
- umfasst, als die
- Verkndigerzahl angibt. In Wahrheit liefert also Spencers
- Studie nicht die Aussage, die er und Montague ihr zuschreiben.
- Montague selbst macht einige anfechtbare Aussagen. Seine mit
- Nachdruck vertretene Ansicht, Jehovas Zeugen seien der Unter-
- schicht zuzurechnen und bei ihnen gebe es besonders viel
- Kriminalitt, sttzt sich fast vollstndig auf seine Intuition
- statt auf irgendwelche statistischen Nachweise (117). Weiter-
- hin stimmen seine Aussagen vielfach nicht mit nchternen
- Analysen von Soziologen, Anthropologen, Historikern und - was
- noch wichtiger ist - bestimmten wesentlichen Daten aus Volks-
- zhlungen berein. Und dennoch ist die Untersuchung Montagues
- von besonderem Wert, da sie zum Thema psychische Strungen bei
- Zeugen Jehovas viel Material aus erster Hand liefert.
- Zusammenfassend lsst sich sagen, dass Jehovas Zeugen, ins-
- besondere die aktiven unter ihnen, unter grossem psychischen
- Druck stehen. Klar zu sein scheint auch, dass viele Zeugen auf
- Grund dieses Drucks in seinen verschiedenen Formen und wegen
- bestimmter Glaubenslehren (wie Dmonismus) unter psychischen
- Strungen leiden; hchst zweifelhaft aber ist, dass dies so
- hufig ist, wie Pescor, von Janner, Spencer und Montague
- meinen.
-
- Anmerkungen:
- -------------
- 1. H. Richard Niebuhr: The Social Sources of Denominatio-
- nal- ism. New York 1919
- 2. Thomas F. O'Dae: The Sociology of Religion. Englewood
- Cliffs, New Jersey, USA 1966. S. 66-69; Bryan R. Wilson:
- Sects and Society. Berkeley 1961
- 3. Melvin Dotson Curry Jr.: "Jehovah's Witnesses: The
- Effects of Millenarianism on the Maintenance of a Reli-
- gious Sect". Dissertation Florida State University,
- Gainsville 1980. S. 243
- 4. Siehe S. 44-45
- 5. Curry, S. 183
- 6. Siehe S. 32
- 7. Trotzki nannte Lenins Regierungssystem eine "orthodoxe
- Theokratie" und sagte: "Lenins Methoden fhrten zu folgen-
- dem: als erstes nehmen die Mitglieder die Parteiorganisa-
- tion die Stelle der Partei als Ganzes ein, dann setzt sich
- das Zentralkomitee an die Stelle der Organisation, und
- schlieálich nimmt ein einzelner `Diktator' die Stelle des
- Zentralkomitees ein" (Isaac Deutscher: The Prophet Armed,
- Trotsky: 1879-1921. London 1954. S. 90)
- 8. Werner Cohn: "Jehovah's Witnesses as a Proletarian Move-
- ment" in: The American Scholar 24 (1955) 288
- 9. ebda., S. 292
- 10. Siehe "Millennium, Millenarianism" in: The New Schaff-
- Herzog Encyclopedia of Religious Knowledge. Grand Rapids,
- Michigan, USA 1977. Band 7, S. 374-378
- 11. Eine Beschreibung der Erscheinungsformen des Millenaris-
- mus im Laufe der Jahrhunderte siehe in Norman Cohn: Das
- neue irdische Paradies (1988) sowie Edwin Leroy Froom:
- The Prophetic Faith of Our Fathers. Washington 1954. Band
- 1-4 12. Siehe zu dieser Frage insbesondere Jesus Jimenez: La
- Objecion de conciencia in Espana. Madrid 1973
- 13. In jenem Jahr gab es eine weltweite Zunahme von 0,5
- Prozent (Jahrbuch 1980)
- 14. Jahrbuch 1981
- 15. ebda.
- 16. ebda.
- 17. Watters, S. 3
- 18. ebda.
- 19. ebda.
- 20. Siehe beispielsweise den Artikel "The `Steward' as He
- Faces Har-Mageddon" im WT 1981. Darin wird Jesaja 22:15-25
- allegorisch gedeutet. ...
- 21. WT 1981
- 22. WT 1974
- 23. Siehe "Wenn ein Verwandter ausgeschlossen wird"
- 24. WT 1983
- 25. Gemss der im Knigreichsdienst (US-Ausgabe) von Novem-
- ber und Dezember 1981 verffentlichten Statistik gab es
- in USA im August 588 503 Verkndiger, im September aber
- nur 541 185.
- 26. WT 1918
- 27. WT 1918
- 28. WT 1919
- 29. ebda.
- 30. Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, S. 83-90
- 31. Jahrbuch 1974, S. 110, 111
- 32. Jehovas Zeugen in Gottes Vorhaben, S. 130
- 33. Jahrbuch 1974, S. 111
- 34. Jahrbuch 1934, S. 90
- 35. ebda., S. 93-96
- 36. Jahrbuch 1974, S. 111
- 37. Eugen Kogon: Der SS-Staat. Frankfurt/M. 1965. S. 266 38.
- Jahrbuch 1973
- 39. Beispiele hierfr siehe Erwachet! 1977
- 40. Den Kindern der Zeugen erscheint besonders belastend,
- dass sie an patriotischen Zeremonien und anderen Schulveran-
- staltungen nicht teilnehmen drfen, obwohl sie praktisch
- durchweg davon berzeugt scheinen, daá es richtig und notwen-
- dig ist, so zu handeln.
- 41. Beispiele solcher Handlungsweise siehe bei Raymond
- Franz: Der Gewissenskonflikt (Mnchen 1988), S. 8-38
-
-
- vom Verfasser autorisierte bersetzung: Helmut Lasarcyk (4.89)
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