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Text File | 1991-10-11 | 60.5 KB | 1,030 lines |
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- James Beverley: Crisis of Allegiance.
- Burlington (Canada) 1986. p. 85-108 (Auszge)
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- [Anmerk. d. bers.: Prof. James A. Beverley hat sich als Aussen-
- stehender mit Vorgngen innerhalb der Versammlungen der Zeugen
- Jehovas in der Stadt Lethbridge in Alberta (Kanada) befasst, die
- Anfang der 1980er Jahre ffentliches Aufsehen erregten. In fnf
- Kapiteln seines Buches legt er systematisch alle erreichbaren
- Fakten dar, die die Geschehnisse erhellen knnen, in deren Verlauf
- mehr als 80 Personen die Gemeinschaft verliessen oder von ihr
- ausgeschlossen wurden. Die folgende bersetzung der beiden
- Schlusskapitel enthlt seine grundlegenden Beobachtungen und
- Schlussfolgerungen. Anschrift des Autors: Prof. James Beverley, c/o
- Atlantic Baptist College, Box 1004, Moncton, New Brunswick, Canada
- E1C 8P4. Buchbezug durch: Hart Publishers, 525 25th St. South,
- Lethbridge, Alberta, Canada T1J 3P5. 12,95 US-Dollar incl.Vers.]
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- Mythen und Wirklichkeit
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- In seinem Werk Der Gewissenskonflikt spricht Raymond Franz davon,
- dass er 1979 "am Scheideweg angelangt war":
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- Fast 40 Jahre lang hatte ich hauptberuflich im Dienst der
- Organisation gestanden, sie von ganz unten bis ganz oben
- durchlaufen. Die letzten 15 Jahre war ich in der Weltzentrale
- ttig gewesen, darunter neun Jahre als Mitglied der leitenden
- Krperschaft der Zeugen Jehovas weltweit.
- Diese letzten neun Jahre waren die entscheidenden. In dieser
- Zeit holte die Realitt meine Illusionen ein. Seither weiss
- ich, dass es stimmt, was ein inzwischen verstorbener Staats-
- mann einmal geussert hat: "Der grosse Feind der Wahrheit ist
- hufig nicht die vorstzliche, betrgerische Lge, sondern der
- Mythos: er hlt sich zh, klingt berzeugend und hat doch mit
- der Wirklichkeit nichts zu tun."
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- Genauso wie Franz waren sich die Zeugen in Lethbridge, die die
- Organisation verliessen, des illusionren Charakters grosser Teile
- der Lehre und Praxis der Wachtturm-Gesellschaft bewusst geworden.
- Doch alle, die gehen, erkennen auch, dass die Wachtturm-Mythologie
- sehr stark ist, so dass der Ablseprozess hufig lange dauert und
- schmerzhaft ist. Sich zu befreien ist ein mhevoller Prozess.
- Ist es berhaupt fair, von einer "Befreiung" zu sprechen, wenn
- jemand sich von den Zeugen Jehovas trennt? Die Anhnger der
- Wachtturm-Gesellschaft wrden sagen, wahre Befreiung liege darin,
- zu ihnen zu gehren, und es sind vielmehr Leute wie Raymond Franz,
- James Penton und andere ehemalige Zeugen, die sich fr den Weg der
- Versklavung entschieden haben. Sie sind in Irrtum und Ungerechtig-
- keit befangen. Doch diesen selbstsicheren Behauptungen der Zeugen
- zum Trotz lsst sich feststellen, dass alle, die der leitenden
- Krperschaft folgen, in fnf Mythen gefangen sind, die sich zh
- halten, berzeugend klingen und doch mit der Wrklichkeit nichts zu
- tun haben. Bevor ich diese Behauptung untermauere, sind einige
- Vorbemerkungen ntig.
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- Angemessene und ausgewogene Kritik
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- Wenn man Jehovas Zeugen kritisiert, heisst das nicht, dass man die
- vielen guten Dinge in der Wachtturm-Gesellschaft nicht wahrnimmt.
- Dieses Augenmass und die Ausgewogenheit, die im kontroversen
- Schrifttum so sehr von Nten sind, lassen viele mehr fundamen-
- talistisch orientierte Werke und Darstellungen vermissen. Damit,
- dass ich das sage, begebe ich mich keineswegs in das Lager der
- laschen, lauwarmen Christen, die es mit keinem verderben wollen.
- Ganz und gar nicht. Mir geht es einzig darum, dass Kritiker der
- Wachtturm-Gesellschaft mitunter dasselbe tun wie die Zeugen, indem
- sie das Beweismaterial verdrehen, mit bertreibungen arbeiten und
- abweichende Ansichten in Bausch und Bogen verdammen.
- Wer sich an das biblische Gebot halten will, kein falsches Zeugnis
- wider seinen Nchsten abzulegen, kann das nur durch ausgewogene
- Kritik tun. Das heisst nicht, dass solche Kritik nicht auch ver-
- nichtend sein kann. Die bekannte Flugschrift von Bruce Metzger
- Jehovas Zeugen und Jesus Christus ist sachlich geschrieben und
- dabei eine der klarsten kritischen Abhandlungen ber die Theologie
- dieser Gemeinschaft. In gleicher Weise zeichnet sich das Buch Der
- Gewissenskonflikt von Raymond Franz als eine der besten Dar-
- stellungen der Wachtturm-Gesellschaft aus, einfach weil der Autor
- so sorgfltige Arbeit leistet.
- Gott gebhrt Ehre dafr, dass er den Zeugen Jehovas seinen all-
- gemeine Gnade genau wie allen anderen Menschen erweist. Respekt ist
- angebracht vor der moralischen Integritt ihrer Mitglieder und
- jeder wahren Lehre, die sie vertreten. Viel lsst sich auch von dem
- Eifer lernen, mit dem die Zeugen von ihrem Glauben Zeugnis geben.
- Ihr Mut angesichts von Verfolgung und Bedrckung, besonders whrend
- der Nazizeit, verdient unsere Bewunderung. Ihren "Triumph des
- Willens" ber Hitler hat Christine Elizabeth King in ihrem Buch The
- Nazi State and the New Religions dokumentiert.
- Auf der anderen Seite aber muss man sich auch immer wieder vor
- Augen fhren, dass Jehovas Zeugen beanspruchen, die einzig wahre
- Religion zu sein. In ihren endlosen Angriffen gegen alle anderen
- Religionen haben sie nie Gnade walten lassen, und ihnen gilt das,
- was Gott fr andere getan hat, berhaupt nichts, ganz gleich, wie
- sehr diese betonen, Gott zu lieben, Christus zu gehorchen und der
- Bibel zu folgen.
- Eine sorgfltige Analyse der Geschichte und Theologie der Zeugen
- Jehovas ergibt eindeutig, dass die Wachtturm-Gesellschaft kein
- Recht zu Kritik hat, bevor sie sich nicht erst der Situation in den
- eigenen Reihen zugewandt hat (Matthus 7:1-6). Eine weite Lcke
- klafft zwischen der Mythologie, an der die Zeugen festhalten, und
- dem, was gemss der Geschichte, dem Zeugnis der Bibel und der
- Wahrheit wirklich der Fall ist. Im folgenden soll auf fnf Mythen
- eingegangen werden, die Weltbild und Erscheinung der Zeugen Jehovas
- massgeblich bestimmen und verhindern, dass sie so sind, wie Gott
- sie gern haben mchte.
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- Der Mythos vom wahren Propheten
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- Fr religise Fhrer gibt es wohl keine grssere Versuchung als
- die, sich einen Prophetenmantel umzuhngen. Die ffentliche
- Bekanntheit, die mit einer solchen Berufung verbunden ist, bringt
- eine grosse Verantwortung mit sich. Dessenungeachtet behaupten
- Jehovas Zeugen selbstsicher, eine solche "Prophetenklasse" zu sein
- (Wachtturm 1. Juli 1972, Seite 389). Die WachtturmGesellschaft
- verurteilt andere, die flschlich das Ende der Welt voraussagen,
- mit der Begrndung, eine derartige falsche Prophezeiung zeige ganz
- klar, dass Gottes Geist nicht mit deren Urhebern sei (Erwachet! 8.
- April 1968, Seite 23).
- Der Mythos, dass Charles Russell, Richter Rutherford, Nathan Knorr
- und Frederick Franz der Welt das prophetische Wort Jehovas
- verkndet haben, hat viel dazu beigetragen, dass Menschen ihr
- Vertrauen auf die Wachtturm-Gesellschaft setzten. Es gibt sogar
- Anzeichen dafr, dass die Zuwachsrate genau proportional dem Eifer
- ist, mit dem Daten fr apokalyptische Ereignisse verkndet werden.
- Jehovas Zeugen geben sich gern dem Glauben hin, dass Charles
- Russells Ansichten ber das Weltende im wesentlichen zutreffend
- waren und dass seine prophetischen Gaben auf Rutherford und die
- anderen Prsidenten ihrer Gesellschaft bergingen. Nur eine
- verschwindend geringe Anzahl unter ihnen sieht, wie ausgeprgt die
- Arroganz und Dummheit auf dem Gebiet der Prophezeiungen bei der
- Wachtturm-Gesellschaft ist. Dieses jmmerliche Versagen beim Vor-
- hersagen der Zukunft wird erst dann aufhren, wenn sie ihrer Rolle
- als prophetischer Organisation abschwrt. Fr viele Aussenstehende
- wird dies ihre Achillesferse bleiben.
- Charles Taze Russell hat sich von der verantwortungslosen Art, wie
- viele Christen des 19. Jahrhunderts mit der Prophetie umgingen, be-
- tren lassen. Das gesamte ausgeklgelte System von Jahreszahlen,
- das mit dem Namen Russell in Verbindung gebracht wurde, hat
- praktisch vollstndig versagt! In den heutigen Verffentlichungen
- erwhnt man kurz, Russell habe Voraussagen ber 1914 gemacht, und
- erweckt den Eindruck, als habe er den Ausbruch des Ersten Welt-
- kriegs vorhergesagt. In Wahrheit hat der Grnder der Zeugen Jehovas
- fr 1914 das Ende der Welt angekndigt. Doch man verflscht nicht
- nur diese Tatsache, man lsst die Zeugen auch im Unklaren ber das
- Gesamtkonzept der Zeitrechnung Russells.
- Russell lehrte whrend seines ganzen Lebens, dass die Bibel die
- Jahreszahlen 539, 1799, 1828, 1846 und 1873 deutlich markiere -
- woran die Zeugen heute nicht mehr glauben. In gleicher Weise lehrte
- Russell, die unsichtbare Gegenwart Christi und das Einbringen der
- Ernte, d.h. das Versammeln der wahren Nachfolger in einer einzigen
- Gemeinschaft, habe 1874 begonnen. Er sagte auch voraus, dass man im
- Jahr 1878 die Erscheinung Christi in Macht und Herrlichkeit sowie
- den Beginn der himmlischen Auferstehung erleben werde. Als die Welt
- in jenem Jahr nicht endete, wurde das Konzept berarbeitet.
- Derartige Ansichten ber die Zukunft stammten nicht von Russell
- selbst, sondern sie wurden zumeist bernommen von Leuten wie Nelson
- Barbour, George Storrs, John Aquila Brown, William Miller, Joseph
- Seiss und Benjamin Wilson. Auch die Auffassung, die grosse Pyramide
- in gypten sei ein zuverlssiger Wegweiser fr biblische Prophetie,
- war abgekupfert. Russell sagt: "Jeder Zoll dieses gewaltigen
- Bauwerks legt ein beredtes Zeugnis von der Weisheit und Macht und
- Gnade unseres Gottes ab" (Dein Knigreich komme, engl. Ausgabe, S.
- 376). In der frhen Ausgabe dieses Werkes (1891), Band 3 der
- Schriftstudien, wird die Lnge eines Ganges in der alten Pyramide
- als Beweis dafr verwendet, dass die "Zeit der Drangsal" 1874
- begann. Ohne grosse Gewissensbisse muss derselbe Gang dieses
- grossen Steindenkmals in der Ausgabe von 1912 als Beweis dafr
- herhalten, dass 1914 der Beginn desselben endzeitlichen Ereignisses
- ist. Durch blosse Annahme verndert Russell die Lnge des Ganges!
- Treffend stellt Bill Cetnar dazu die Frage: "Ist Wahrheit wirklich
- so dehnbar?" (Questions for Jehovah's Witnesses, S. 61).
- Zgern berkommt Russell einzig dann, wenn der Tag, an dem ein
- bernatrliches Ereignis hereinbrechen soll, herannaht; ansonsten
- ist seine Zuversicht unglaublich. In dem Buch Die Zeit ist
- herbeigekommen urteilt er ber seine eigenen schillernden Spekula-
- tionen, sie seien eine Sache "von unbezweifelbarer Sicherheit"
- (engl. Ausgabe, S. 366). Und wem das noch nicht reicht, der lese,
- was er am Schluss des Buches Der gttliche Plan der Zeitalter
- schreibt:
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- Hiermit sei gesagt, dass bisher kein theologisches System es
- unternommen oder zu behaupten gewagt hat, alle Aussagen der
- Bibel in eine harmonische bereinstimmung zu bringen; doch
- genau das nehmen wir hier in Anspruch. Diese Harmonie, die
- nicht nur mit der Bibel, sondern auch mit dem gttlichen
- Charakter und dem geheiligten gesunden Menschenverstand
- besteht, wird die Aufmerksamkeit des gewissenhaften Lesers
- ganz sicher bereits gefesselt und ihn mit Ehrfurcht, aber auch
- mit Hoffnung und Zuversicht erfllt haben.
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- Der zweite Prsident, Richter Joseph F. Rutherford, nderte zwar
- das Endzeitberechnungssystem Russells fast vollstndig, gab aber
- zu, mit dem Jahr 1925 habe er "sich lcherlich gemacht". In jenem
- Jahr sollte "die Rckkehr Abrahams, Isaaks, Jakobs und der
- glaubenstreuen Propheten ... eintreten ... zu dem Zustande
- menschlicher Vollkommenheit" (Millionen jetzt lebender Menschen
- werden nie sterben, S. 81). Selbst als mit diesem Jahr die
- Glaubenstreuen des Alten Testaments nicht zurckkehrten, waren die
- Zeugen immer noch so zuversichtlich, dass ihre Rckkehr unmittelbar
- bevorstand, dass sie fr diese Glaubensmnner in San Diego ein Haus
- kauften. Dieser Herrensitz, dem man den Namen Beth-Sarim (oder Haus
- der Frsten) gab, sollte als ein Beweis fr die Zukunftserwartung
- der Wachtturm-Gesellschaft dienen, doch er wurde nach Rutherfords
- Tod verkauft - auch wenn das seiner ausdrcklichen testamentlichen
- Verfgung widersprach. Hchst plastisch kommt in einer Meldung der
- Wachtturm-Verffentlichung The Messenger von 1931 zum Ausdruck,
- dass die Zeugen voll innerer Bewegung die Rckkehr der Treuen des
- Alten Testaments erwarteten. In einem kurzen Artikel werden dort
- die Verwalter von Beth-Sarim dafr gelobt, dass sie ihren beiden
- Kindern Namen zu Ehren der Treuen aus dem Alten Testament gegeben
- htten, die bald in San Diego eintreffen wrden!
- Ende der 30er und Anfang der 40er Jahre nahm die Endzeiterwartung
- wieder zu. In der Wachtturm-Literatur ist davon die Rede, dass es
- nicht angebracht sei, zu heiraten und Kinder zu bekommen, da es bis
- Harmagedon nur noch einige Monate dauere (Watchtower 15. September
- 1941, S. 46-47, 50). Nachdem Nathan Knorr 1942 dritter Prsident
- der WachtturmGesellschaft geworden war, wurde man in den propheti-
- schen usserungen etwas weniger krass. Das sollte so bleiben, bis
- 1966 in dem Buch Ewiges Leben in der Freiheit der Shne Gottes
- erstmals auf 1975 als Endzeittermin hingewiesen wurde. Die meisten
- Aussagen der Organisation ber dieses Jahr waren zwar zurckhaltend
- und sehr differenziert, doch Frederick Franz erwarb sich einen Ruf
- fr verstiegene Behauptungen. Darber hinaus war auch der K-
- nigreichsdienst (US-Ausgabe) vom Mai 1974 sehr unzweideutig, wenn
- er sagte: "Es gehen Berichte ber Brder ein, die Haus und Habe
- verkaufen, um die restliche Zeit in diesem alten System im
- Pionierdienst zu verbringen. Bestimmt ist dies eine vorzgliche Art
- und Weise, die kurze Zeit, die bis zum Ende der verderbten Welt
- noch bleibt, zu verbringen."
- Der Reinfall von 1975 hatte in der ganzen Welt eine derartig
- negative Auswirkung auf die Anhnger, dass die Organisation ihre
- anfnglichen Ausflchte und Falschaussagen zugunsten einer klaren
- Entschuldigung im Watchtower vom 15. Mrz 1980 aufgeben musste.
- Diese Offenheit ber 1975 wurde bedauerlicherweise nie auf das
- gesamte Herumjonglieren mit Endzeitdaten, das es nun schon ein
- Jahrhundert lang gab, ausgedehnt. Wer unter den Zeugen Jehovas
- nicht genau Bescheid weiss, meint, es habe nur einzelne Fehler
- gegeben und die vergangenen Fehlschlge seien vor allem auf die zu
- grosse Begeisterung der Anhnger ber verschleierte Andeutungen
- ihrer Fhrerschaft zurckzufhren gewesen. Tatsache ist, dass die
- beinahe tdliche Dosis an falschen Prophezeiungen von der Leitung
- verabreicht wurde, und nur mit den unglaublichsten geistigen
- Verrenkungen bringen die Zeugen es fertig, diese armselige
- Zukunftsdeuterei zu erklren.
- Bei Walter Graham, dem Public-Relations-Beauftragten der Wacht-
- turm-Gesellschaft fr Kanada, brauchte ich zehn Minuten harten
- Nachfragens, bis ich ihm ein Eingestndnis abringen konnte, dass
- berhaupt Fehler gemacht worden waren. Hier ein Auszug aus diesem
- Teil des Gesprchs:
- BEVERLEY: Wie sehen Sie oder die Wachtturm-Gesellschaft die
- Fehlschlge der Vergangenheit, was Endzeittermine betrifft?
- GRAHAM: Unserer Ansicht nach handelte es sich nicht um Fehlschlge
- oder falsche Prophezeiungen.
- B: Wrden Sie einrumen, dass einige Aussagen in den Verffentli-
- chungen der WachtturmGesellschaft schlicht verkehrt waren oder
- zumindestens eine solche Deutung zulassen?
- G: Wissen Sie, wir halten sie nicht fr verkehrt in dem Sinne, dass
- man sie absichtlich gemacht hat, doch es stimmt schon, dass wir
- unsere Ansichten in vielen dieser Punkte gendert haben, und wir
- glauben, dass das ein normaler Vorgang ist.
- B: Haben Sie denn etwas dagegen, sie rundweg als Fehler zu
- bezeichnen?
- G: Ja, denn eine solche Aussage knnte aus dem Zusammenhang
- gerissen werden. Und deswegen haben wir etwas dagegen, diese
- usserungen als verkehrt oder als Fehler zu bezeichnen, denn
- unserer Ansicht waren sie es nicht.
- B: Meiner Ansicht nach bleibt Ihnen gar nichts anderes brig, als
- einige dieser Aussagen als falsch zu bezeichnen, selbst bei
- grosszgigster Auslegung. ... diese usserungen sind, fr sich
- allein genommen, schon einfach so unfasslich, dass sie nur richtig
- oder falsch sein knnen.
- G: So stellt sich das mir aber nicht dar. Ich habe diese Stellen
- alle gelesen. Wir [er meint seine Familie] fanden sie nicht extrem;
- sie haben uns nicht aus der Bahn geworfen; wir wurden durch sie
- nicht von dem abgebracht, was wir als richtig erkannt haben, und
- wir wurden durch sie auch nicht enttuscht. ... [1975 war] fr mich
- keine Enttuschung. Ich habe 1975 nicht das Ende der Welt erwartet,
- und das wurde in unseren Zeitschriften auch gar nicht gesagt.
- B: Und was ist mit einer Aussage wie dieser: "Daher knnen wir
- vertrauensvoll erwarten, dass mit 1925 die Rckkehr Abrahams,
- Isaaks und Jakobs eintreten wird"? Diese Aussage stimmt doch nicht.
- Sie sind doch 1925 nicht von den Toten zurckgekehrt.
- G: Ja, da haben Sie recht. Aber wenn wir heute auf diese Zeit
- zurckblicken und dabei bercksichtigen, dass es inzwischen
- fortgeschrittenere Offenbarungen gegeben hat, dann schauen wir von
- einer geistig weit vorgerckten Warte aus zurck.
- Spter rumte Graham ein, wenn man das bliche Verstndnis des
- Wortes "Fehler" zugrundelege, dann seien einige der frheren
- Aussagen fehlerhaft. Er fgte aber hinzu, da Jehova die Fehler
- zulasse, wolle er nicht sagen, Gott mache Fehler. Der Public--
- Relations-Verantwortliche meinte auch, die Zeugen seien bermssig
- enthusiastisch gewesen und htten bisweilen "das Verkehrte zur
- richtigen Zeit" erwartet. Mit genau derselben Begrndung ent-
- schuldigte Charles Russell die Unwissenheit der Adventisten, die
- als Anhnger William Millers das Ende fr 1843, spter fr 1844
- ankndigten (siehe Die Zeit ist herbeigekommen, engl. Ausgabe, S.
- 31). Zwar behauptete Graham zuversichtlich, die Organisation habe
- keine wirklich falschen oder extremen Voraussagen gemacht, doch
- bisher brauchte noch kein Zeuge Jehovas ihre Leistungen auf dem
- Gebiet der Prophezeiungen in einer sorgfltigen wissenschaftlichen
- Arbeit zu verteidigen. Stattdessen indoktriniert die Organisation
- ihre Anhnger mit der stndigen Aussage, sie sei von Gott inspi-
- riert, und hofft dabei, dass keiner so genau in den Original-
- schriften von Charles Russell und Richter Rutherford nachforscht.
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- Der Mythos von der Reinheit der Lehre
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- Zu der Behauptung, sie seien der Prophet Gottes, fgen Jehovas
- Zeugen noch die hinzu, sie htten die reine Lehre, und damit meinen
- sie, fr ihre Predigtttigkeit von Haus zu Haus zwei unschlagbare
- Argumente zu haben. Auch hier wieder nimmt ihre Zuversicht
- mythische Proportionen an, wenn man betrachtet, wie hufig die
- Wahrheit sich im Laufe der Jahrzehnte gewandelt hat und in welchem
- Ausmass ihre Schlssellehren sich oft auf unzureichende Exegese,
- unscharfe Gedankengnge und sorglosen Umgang mit der Geschichte
- grnden.
- Ich rume bereitwillig ein, dass die Wachtturm-Gesellschaft in den
- ber 100 Jahren ihres Bestehens vieles an biblischer Wahrheit
- gelehrt hat. Ein Pluspunkt fr die Zeugen ist auch die Tatsache,
- dass sie sehr oft hervorheben, man msse Glaubensansichten im Licht
- der Bibel beurteilen. Diesen Massstab aufzustellen garantiert aber
- noch nicht, dass auch danach verfahren wird. Wie steht es also um
- die Reinheit der Lehre?
- Den Zeugen ist nicht bewusst, dass viele ihrer Lehren so unmittel-
- bar in der Bibel gar keine Sttze finden. Die Organisation stellt
- dogmatische Behauptungen zu Angelegenheiten auf, zu denen die Bibel
- sich nicht klar ussert. Wo steht beispielsweise klar in der Bibel,
- dass jeder Schpfungstag 7000 Jahre lang ist? Oder, was noch
- wichtiger ist, weshalb deutet man die Zahl 144 000 (aus Offenbarung
- 7 und 14) als buchstbliche Zahl, whrend alles andere, das ber
- diese Gruppe gesagt wird, symbolisch aufgefasst wird? Den Fhrern
- der Organisation scheint es berhaupt nichts auszumachen, dass es
- fr ihre Festlegung auf die 144 000 weder im Neuen Testament noch
- in der Urkirche oder whrend der 2000 Jahre seit dem ersten Kommen
- Christi irgendeine Parallele gibt. Die drastischen Vernderungen,
- die die Lehre der Organisation ber die himmlische und die irdische
- Klasse in den 100 Jahren durchgemacht hat, zeigen mehr als alles
- andere, dass dieses Konzept seine Ursprnge in den Traditionen der
- Menschen hat, nicht im Wort Gottes. Erst in jngerer Vergangenheit
- wurde in der Wachtturm-Literatur klar betont, dass Christus nur der
- Mittler der 144 000 ist, und diese Deutung hat bei vielen Zeugen
- Verwirrung gestiftet.
- Die Argumente, die die Zeugen gegen die fleischliche Auferstehung
- Jesu vorbringen, sind ziemlich an den Haaren herbeigezogen. Man
- sagt, die Bibelstellen ber die Erscheinungen Christi nach der
- Auferstehung zeigten, dass Jesus einen anderen Leib hatte und das
- auch nur zeitweilig, um seine Jnger davon zu berzeugen, dass er
- tatschlich auferstanden sei. Damit aber wird man den Aussagen von
- Matthus 28:9, Lukas 24:36-39, Johannes 2:21, 20:24-29 und
- Apostelgeschichte 2:32 nicht gerecht.
- Die berzeugung der Wachtturm-Gesellschaft, Jesus sei in Wirklich-
- keit der Erzengel Michael (und zwar sowohl vor als auch nach seinem
- Leben auf Erden), steht in Widerspruch zu Hebrer 1:1-14 und
- Johannes 17:5. Auch ihre Lehre, Jesus sei "ein Gott", dem keine
- Anbetung gebhre, lsst den Beweisen fr eine trinitarische
- Sichtweise im Neuen Testament keine Gerechtigkeit angedeihen. Es
- ist zwar richtig, dass viele die Dreieinigkeit etwas zu stark
- betont haben, weil sie den Arianismus bekmpfen wollten, doch
- extremes Verhalten der einen Seite ist kein Freibrief fr die
- achtlose Art, in der die Zeugen alle Beweise hinwegfegen, die fr
- den Geist als eine Person und fr die volle Gttlichkeit Christi
- sprechen.
- Fr die Behauptung, Jesus sei an einem Pfahl und nicht am Kreuz ge-
- storben, gibt es keinen eindeutigen Beweis. Das Material von Justus
- Lipsius wird auf unehrliche und ungenaue Weise benutzt (siehe dazu
- Penton: Apocalypse Delayed, 1985, S. 342, Fussnote 63, und Watters:
- Thus Saith the Governing Body of Jehovah's Witnesses, S. 80-82).
- Die Auffassung, dass die Treuen des Alten Testaments nicht in den
- Himmel kommen, widerspricht den klaren Aussagen von Texten wie
- Matthus 18:11, Lukas 13:28, 29 und Hebrer 11:13-16. Noch viel
- bedeutender aber ist der Widerspruch zwischen der Werkgerechtig-
- keit, die in dieser Organisation eine so berragende Rolle spielt,
- und der Errettung durch Gnade, auf die die Bibel so ausdrcklich
- Wert legt.
- Die weitaus schwchste Basis aber hat ihre so wesentliche Grundleh-
- re von der unsichtbaren Wiederkunft Jesu im Jahr 1914. Man lsst
- die klare Aussage des Neuen Testaments, Christus werde sichtbar
- wiederkommen, einfach ausser acht (Matthus 24:23-28, Apg. 1:9-11)
- und verkndet dem Glaubensvolk, Jesus werde am Ende der "Zeiten der
- Nationen" wiederkehren. Diese Bezeichnung wird einem Ausspruch Jesu
- in Lukas 21:24 entnommen, wonach Jerusalem zertreten werden wrde,
- bis "die bestimmten Zeiten Nationen erfllt sind" (Neue-Welt-ber-
- setzung). Jehovas Zeugen behaupten, diese "Zeiten der Nationen"
- oder Heidenzeiten htten im Jahr 607 v.Chr. begonnen, als die Juden
- ihre Eigenstndigkeit an Nebukadnezar verloren. In Daniel 4:16, 25
- wird gesagt, ber dem Knig von Babylon sollten "sieben Zeiten"
- vergehen. Mit einem exegetischen Kunstgriff, wie er so typisch fr
- die adventistische Tradition ist, werden sieben Zeiten mit sieben
- Jahren gleichgesetzt. Das wiederum ergibt 84 Monate oder 2520 Tage.
- Die 2520 Tage legt man darauf als 2520 Jahre aus, da in der
- Prophetie ein Tag fr ein Jahr stehe! So kommt man dazu, dass die
- Heidenzeiten, nachdem sie im Jahr 607 v.Chr. begannen und 2520
- Jahre dauern sollten, im Jahr 1914 enden wrden, und dann werde
- Christus seine Herrschaft ber die Nationen antreten.
- Die meisten Zeugen bernehmen diese Auslegung wahrscheinlich
- deswegen, weil etwas so Verwirrendes einfach die Wahrheit sein
- muss. In Wirklichkeit hat Daniel die Geschichte von der Erniedri-
- gung Nebukadnezars zu keiner Zeit mit irgendwelchen Heidenzeiten in
- Verbindung gebracht, noch gibt es irgendwo in der Bibel eine
- Stelle, in der die genaue Lnge dieser Zeitspanne angegeben ist.
- Und, wie Carl Olof Jonsson zeigt, handelt es sich bei der ganzen
- Tag-Jahr-Theorie um eine neuzeitliche exegetische Variante, die
- zahllose falsche Prophezeiungen zur Folge hatte. Den wenigsten
- Zeugen ist bewusst, dass es fr einen Sturz des Sdreichs Israels
- im Jahr 607 v.Chr. keinen eindeutigen Beweis gibt. Smtliche
- Wissenschaftler datieren dieses Ereignis auf 587 oder 586 v.Chr.
- Ebenfalls nur wenigen Anhngern der Wachtturm-Gesellschaft ist be-
- kannt, dass Russell sein ganzes Leben lang glaubte, Christus sei
- 1874 unsichtbar wiedergekommen, und wie er glaubten es die
- Bibelforscher, bis Rutherford die Lehre 1929 in diesem Punkt
- nderte. Im siebenten Band der Schriftstudien, der 1917 erschien,
- werden sogar 88 Beweise dafr genannt, dass Jesus im Jahr 1874
- unsichtbar wiederkam!
- Zu den aufsehenerregenden Details im Lebensbericht von Raymond
- Franz gehrt die Mitteilung, dass die leitende Krperschaft
- ernsthaft erwogen hatte, das Jahr 1957 statt des Jahres 1914 als
- den Ausgangspunkt fr die Generation, die nicht vergehen wrde,
- anzusetzen (Matthus 24:34; siehe R. Franz, 1988, S. 210-212).
- Dieser Vorschlag des Schreibkomitees wurde zwar von der leitenden
- Krperschaft verworfen, doch da die Generation von 1914 im
- Aussterben begriffen ist, bleibt ihr die prophetische Zeitbombe
- erhalten. Da die Zeugen glauben, vom Ende der Heidenzeiten an werde
- es nur noch eine Generation [bis Harmagedon] geben, verfestigt
- jedes verstreichende Jahr die Ansicht, die Wachtturm-Gesellschaft
- solle sich etwas genauer an die Warnung der Bibel halten, dass
- alles Spekulieren ber den Zeitpunkt der Wiederkunft Christi
- Torheit ist (Apg. 1:7).
- Und es gibt eine weitere allgegenwrtige Schwche in der Lehre der
- Wachtturm-Gesellschaft, die auch dort auftritt, wo sie vllig mit
- der Bibel in bereinstimmung ist. Weshalb muss bei den Zeugen
- praktisch jede Frage in simpler Schwarz-Weiss-Manier abgehandelt
- werden? Kann man denn nicht eingestehen, dass Christen einen
- gewissen Spielraum haben (Rmer 14) und dass die Beweislage nicht
- immer so eindeutig ist? Ganz extrem ist das Verbot des Feierns von
- Weihnachten, Ostern und Geburtstagen, wenn man bercksichtigt, aus
- welch hochstehenden Beweggrnden und in welchem Geist der Liebe
- diese Anlsse begangen werden knnen. Ein rgernis ist auch die
- Leichtigkeit, mit der die Zeugen Bluttransfusionen ablehnen,
- bedenkt man den Grundsatz, der dem biblischen Verbot des Essens von
- Blut zu Grunde liegt: die Achtung vor dem Leben.
- Zu Themen wie dem Weiterleben der Seele, der Art und Weise des Ge-
- richts Gottes und der korrekten Einschtzung der Autoritt von
- Regierungen findet man in der Literatur der Wachtturm-Gesellschaft
- bei weitem nicht die saubersten und sorgfltigsten Untersuchungen.
- Sogar die Selbstverherrlichung, die man wegen des Gebrauchs des
- Namens Jehova treibt, findet keine wissenschaftliche Grundlage. In
- diesen und anderen Fragen wird die offizielle Lehrmeinung zumeist
- in Form von Suggestivfragen, unter Beschimpfung anderer und unter
- Heranziehung fiktiver Argumente von Gegnern, die dann widerlegt
- werden, vorgetragen. Geht es beispielsweise um Ostern oder
- Weihnachten, so ist in der Wachtturmliteratur stndig vom heidni-
- schen Ursprung dieser Bruche die Rede. Den Autoren scheint nie der
- Gedanke gekommen zu sein, dass eine Sache wohl einen verkehrten
- Anfang haben, dann aber eine Wandlung durchmachen kann, weil sich
- Bedeutung und Beweggrnde vollstndig ndern.
- Wozu die Wachtturm-Gesellschaft in Sachen Unausgewogenheit und un-
- fairem Verhalten fhig ist, zeigt sich nirgends so gut wie in ihrem
- Umgang mit den Glaubensansichten anderer. Zwar zeigen die heutigen
- Verffentlichungen ein gewisses Geschick im Zurckweisen gegen-
- teiliger Ansichten, doch Richter Rutherford war einfach unver-
- schmt. Er bezeichnete die Geistlichkeit als "das unterste Niveau
- der gesetzlosen Menschheit" (Vindication [Rechtfertigung] I, S.
- 190), als "heuchlerische Windbeutel" (Watchtower 15. Mai 1929, S.
- 149) und als "die schlimmsten Heuchler, die es je auf Erden gab"
- (Light [Licht] II, S. 144).
- Manchmal ist die Kritik der Wachtturm-Gesellschaft an der Welt und
- an anderen Glaubensrichtungen angemessen, doch Ausgewogenheit gibt
- es nur selten, so dass man kaum einmal auch ein Wort des Lobes fr
- die Sichtweise der anderen findet. Zudem misst die Kritik mit
- zweierlei Mass, worauf Timothy White hinweist:
-
- Ein beklagenswertes Merkmal der Kritik der Zeugen an anderen
- ist, dass sie die vernnftige Vorschrift aus 5. Mose 25:13
- missachten: "Du darfst in deinem Beutel nicht zweierlei
- Gewichtssteine, einen schwereren und einen leichteren, haben."
- Einem Fehler in einer anderen Organisation messen sie viel
- mehr Gewicht bei als demselben Fehler, sobald er in ihrer
- eigenen Gemeinschaft gemacht wird. So kommt es, dass die
- falsche Lehre der Christenheit unentschuldbar ist, doch bei
- Russell bezeichnet man dasselbe als das noch unzureichend
- scheinende Licht. Verbrechen innnerhalb der Christenheit
- beweisen, dass die Kirchen nicht von Gott stammen knnen,
- Verbrechen innerhalb der Neuen-Welt-Gesellschaft hingegen,
- wenn man sie berhaupt zugibt, sind lediglich auf menschliche
- Unvollkommenheit zurckzufhren, durch die man sich nicht vom
- Weg abbringen lassen darf.
-
-
- Der Mythos von der wissenschaftlichen Ehrlichkeit
-
- Nach Beckford lsst sich die feste berzeugung, die man bei den
- Anhngern der WachtturmGesellschaft findet, zumindest teilweise auf
- das rationalistische Geprge zurckfhren, das diese sich gibt (The
- Trumpet of Prophecy, 1975, S. 201-204). Mit Russell betonte die
- Organisation von Anfang an, wie sehr ihre ganze Lehre auf ver-
- nnftigem Denken beruhe. Von daher rhrt die Ansicht der Zeugen,
- ihr Glauben werde durch wahre Wissenschaft gesttzt. Genauso
- verstiegen wie die Behauptungen ber die Zuverlssigkeit ihrer
- Prophezeiungen und Lehren sind aber auch die ber den Glanz ihrer
- Fhrung und die Unerschtterlichkeit der Ergebnisse der Arbeit
- ihrer Gelehrten.
- In der Anfangszeit sahen die Bibelforscher in Russell den "treuen
- und verstndigen Sklaven" aus Matthus 24, und der Pastor liess
- sich in Privatgesprchen auch so anreden (Watchtower, 1.12.1916, S.
- 357). In welchem Ausmass Russell aber bewundert wurde, kann man nur
- erfassen, wenn man die nach seinem Tod erschienene Literatur der
- Wachtturm-Gesellschaft mit wachen Augen liest. in dem Buch The
- Finished Mystery [Das vollendete Geheimnis] (S. 57-58) wird er wie
- folgt beschrieben:
-
- Das Mass an Arbeit, das Pastor Russell verrichtete, ist
- unglaublich und es ist zweifelhaft, ob irgend je ein mensch-
- liches Wesen ihm darin gleichkommt. ... Fnfzig Jahre lang
- litt er wegen eines Sturzes in seiner Jugend stndig an
- Kopfschmerzen, und 25 Jahre lang hatte er so lstige Hmor-
- rhoiden, dass auch der bequemste Stuhl ihm unertrglich war.
- Und dennoch reiste er in den vergangenen 40 Jahren ber
- anderthalb Millionen Kilometer, hielt 30 000 Predigten und
- Bankettreden, viele davon zweieinhalb Stunden lang, verfasste
- mehr als 50 000 Seiten zur Auslegung der Bibel, diktierte oft
- 1000 Briefe im Monat, fhrte die Aufsicht ber einen weltwei-
- ten Evangelisten-Feldzug mit 700 Rednern, stellte eigenhndig
- das schnste Bibeldrama zusammen, das die Welt je gesehen hat.
- Und zu all dem hat man - von ihm selbst unbemerkt - gesehen,
- wie er die ganze Nacht ber am Kamin stand, regungslos ins
- Gebet vertieft.
-
- An anderer Stelle in demselben Werk wird noch mitgeteilt, dass
- seine Bcher "alle von Gott kamen, durch die erleuchtende Kraft des
- Heiligen Geistes" (S. 387). Er war der Laodizische Bote, den Gott
- erwhlt hatte, die abgefallene Christenheit zum letzten Mal zu
- warnen. Ironischerweise schenken Jehovas Zeugen ihrem Grnder heute
- buchstblich keinerlei Beachtung mehr. Die ersten Bibelforscher
- sagten, er war "die schne Stimme des Herrn, stark, demtig, weise,
- liebevoll, sanft, gerecht, barmherzig, treu, aufopferungsvoll;
- einer der edelsten, grssten Charaktere der ganzen Weltgeschichte"
- (S. 125).
- Man muss das Buch Das vollendete Geheimnis, bei dessen Freigabe im
- Juli 1917 es unter den Bibelforschern zur Spaltung kam, genau
- lesen. Dann sieht man, wie dogmatisch die Zeugen Ansichten
- vertreten knnen, die nur noch als unfreiwillige humoristische
- Einlagen zu bezeichnen sind. Die Verfasser sprechen davon, dass
- Hiob eine Vision der Dampfmaschine hatte (Kap. 40-41), und zeigen,
- dass Nahum einen Eisenbahnzug in voller Fahrt beschreibt (2:3-6).
- Spter heisst es, die in Offenbarung 14:20 erwhnten 1600 Stadien
- bezgen sich auf die Strecke von Scranton (Pennsylvania), wo das
- Buch geschrieben wurde, bis nach Brooklyn, wo es gedruckt wurde.
- Derart spekulativ ist die Literatur der Organisation heute nicht
- mehr, doch von sauberer wissenschaftlicher Arbeit kann bei den
- Verffentlichungen der Zeugen Jehovas immer noch keine Rede sein.
- Wieviele Forscher ziehen die Verffentlichungen der Wachtturm--
- Gesellschaft zu Rate, um daraus neue Einsichten zu gewinnen, um
- etwas an sorgfltiger Exegese und tiefgehender theologischer
- Reflexion dazuzulernen? Zwar zitieren die Verfasser der Wachtturm--
- Literatur die verschiedensten Autoritten, doch in einigen
- konkreten Fllen wurden diese verflscht wiedergegeben. So haben
- sich beispielsweise Edwin Thiele, William Barclay, Julius Mantey,
- Edward Campbell und David Noel Freedman (allesamt Religionswissen-
- schaftler) dagegen verwahrt, dass man aus ihren Werken in ent-
- stellender Weise zitiert hat. Ganz allgemein gesprochen, mutet es
- reichlich seltsam an, dass stndig andere Wissenschaftler zitiert
- werden, wo diese doch noch nicht einmal erkannt haben, dass die
- Wachtturm-Gesellschaft der einzige Mitteilungskanal der Wahrheit
- ist und "die einzige Organisation auf Erden ..., die die tiefen
- Dinge Gottes versteht" (Wachtturm, 1.10.1973).
- Man kann sich auf die Literatur der Wachtturm-Gesellschaft noch
- nicht einmal dann verlassen, wenn man Zuverlssiges ber ihre
- eigene Geschichte erfahren will. Russells Stellung als "treuer und
- verstndiger Sklave" wird oft in verschleiernder, irrefhrender
- Form dargestellt, ebenso seine Eheprobleme. Die bliche Art und
- Weise, in der die Spaltung von 1917 abgehandelt wird, als Ruther-
- ford seine Machtposition festigte, kann auch nicht gerade als
- ehrlich bezeichnet werden, genausowenig wie die Angaben ber das
- anfngliche Verhltnis zu den Nationalsozialisten in Deutschland.
- Der Fall Olin Moyle aus dem Jahr 1939 wird in den Schriften wohl
- niemals offen errtert werden, und auch nicht all die frhen
- Glaubensansichten, die man mittlerweile fallengelassen hat. Im
- Jahrbuch 1969 (engl. Ausg. S. 50) und im Wachtturm vom 1. April
- 1972 (S. 216) wird jedesmal aus dem Grndungsstatut der Wachtturm--
- Gesellschaft von 1884 zitiert, doch beide Male unterlsst man es
- geflissentlich zu erwhnen, dass dort ursprnglich auch ein Auftrag
- enthalten war, Christus zu verehren. Wenn A. H. MacMillan behaup-
- tet, Prsident Fred[erick] Franz habe sein Studium an der Univer-
- sity of Cincinnati mit Auszeichnung bestanden, so bertreibt er mit
- Sicherheit; dasselbe gilt fr die Andeutung, man habe ihm ein
- RhodesStipendium angeboten. Die Wahrheit, die der bertreibung
- MacMillans zugrunde liegt, lautet, dass Franz whrend seiner zwei
- Jahre an der Universitt gute Leistungen brachte und ihm einige
- seiner Professoren versicherten, er htte gute Aussichten auf ein
- Rhodes-Stipendium.
- Wie weit die Wachtturm-Gesellschaft gehen kann, um Sttzen fr ihre
- Auffassungen zu finden, zeigt sich daran, dass sie die absonderli-
- che Bibelbersetzung von Johannes Greber zitiert (die von sich
- sagt, dass sie mit spiritistischer Hilfe zustande gekommen sei).
- Greber stimmt mit der Neuen-Welt-bersetzung in der Wiedergabe des
- letzten Teils von Johannes 1:1 berein: "Das Wort war ein Gott."
- Die Zeugen sehen die Bibel der Wachtturm-Gesellschaft als die
- zuverlssigste bersetzung an, doch in der wissenschaftlichen
- Fachliteratur gab es nichts als negative Rezensionen. Man kriti-
- sierte sie sowohl wegen ihrer theologischen Voreingenommenheit wie
- auch fr den schlechten sprachlichen Stil. Bruce Metzger schrieb,
- manches an diesem Werk sei "einfach unhaltbar" (The Bible Examiner,
- Juli 1964, S. 152), und H. H. Rowley nannte es in der Expository
- Times "ein glnzendes Beispiel dafr, wie man die Bibel nicht
- bersetzen sollte".
- Und dann gehen Jehovas Zeugen in der Schilderung der politischen
- Integritt ihrer Organisation bei allem Wohlwollen doch etwas zu
- weit. Auf die politische Realitt ist man seit der Wahl Rutherfords
- zum Prsidenten in der Literatur der Wachtturm-Gesellschaft im
- wesentlichen nur ganz grob vereinfachend eingegangen. Was noch
- schlimmer ist: Raymond Franz hat ein unglaubliches Beispiel
- brokratischer Doppelzngigkeit dokumentiert. Fr das Verhalten
- gegenber Regierungen gab die Wachtturm-Gesellschaft im ost-
- afrikanischen Malawi ganz andere Anweisungen aus als in Mexiko. In
- Mexiko billigte es die leitende Krperschaft, dass die Zeugen die
- Beamten bestachen, um an eine Bescheinigung zu gelangen, die ihnen
- (flschlich) besttigte, die Kriegsdienstpflicht erfllt zu haben,
- wohingegen die Getreuen in Malawi grosse Leiden auf sich nehmen
- mussten (Verlust des Eigentums, Folter, Vergewaltigung und Tod),
- weil sie gehorsam waren und keine Mitgliedskarte der herrschenden
- Partei erwarben. Die Direktiven der Wachtturm-Gesellschaft hat
- Raymond Franz in seinem Buch Der Gewissenskonflikt als Kopie
- verffentlicht. Ein Zeuge Jehovas mit Zivilcourage, der Liebe zu
- seinen Glaubensbrder und -schwestern in Malawi hat, msste doch
- zumindest festzustellen versuchen, ob die Vorwrfe von Raymond
- Franz der Wahrheit entsprechen.
-
- Der Mythos von der fortschreitenden Offenbarung
-
- Ab und zu kommt es vor, dass Zeugen Jehovas rundherum leugnen, es
- gbe irgendwelche Schwchen, selbst wenn man ihnen ein konkretes
- Beispiel fr eine nicht eingetretene Voraussage, einen Irrtum in
- der Lehre oder wissenschaftlich falsche Aussagen vorhlt. Ich
- entsinne mich noch, wie ich einem Zeugen in Halifax eine Ver-
- ffentlichung mit Richter Rutherfords falscher Prophezeiung ber
- 1925 zeigte und er darauf erwiderte, ich htte diese Schrift
- (Millionen jetzt lebender Menschen werden niemals sterben) selber
- herausgebracht, damit es wie eine Verffentlichung der Wachtturm--
- Gesellschaft ausshe!
- Hufiger kommt es aber vor, dass einem der Gedanke von der fort-
- schreitenden Offenbarung entgegengehalten wird, um die Kritik zu
- entkrften. Sehr oft bezieht man sich auf Sprche 4:18, wo es nach
- der Neuen-Welt-bersetzung heisst: "Aber der Pfad des Gerechten ist
- wie das glnzende Licht, das heller und heller wird, bis es voller
- Tag ist." Zur Rechtfertigung der vielen nderungen in der Lehre
- wird im Wachtturm vom 15. Mai 1982 als Analogie aus der Seefahrt
- sogar das Bild des "Kreuzens am Wind" verwendet. Darber hinaus
- wird den Zeugen stndig vorgehalten, "nicht Jehova vorauszueilen",
- indem sie Fehler in Seiner Organisation selbst abstellen wollten.
- Was soll man darauf sagen? Erstens, dass es ganz unwahrscheinlich
- ist, dass ein einzelner Mensch jemals Jehova zuvorkommen knne beim
- Festlegen der Wahrheit und bei der Einfhrung vernnftiger
- Handlungsgrundstze. Dass man Jehova die Schuld dafr gibt, wenn
- die leitende Krperschaft unfhig ist zur unverzglichen und
- rckhaltlosen Reform der Organisation, das ist ganz sicher ein
- Missbrauch Seines Namens. Zweitens ist das Konzept der fort-
- schreitenden Offenbarung keine Ausrede fr Fehler. Die Berge an
- Literatur, die von Russell und Rutherford stammen, waren der
- Wahrheit niemals auch nur nahegekommen, und dem stellen sich die
- Zeugen einfach nicht. Obendrein vertreten diese und auch ihr
- heutiger Nachfolger im Amt ihre Lehren auf die dogmatischste Weise;
- jeder, der widerspricht, wird unverzglich zurechtgewiesen. Sie
- sperren sich gegen die Erkenntnis, dass ihre "Wahrheit" sich auch
- als falsch herausstellen knnte. Rutherford selbst ging mit dem
- Erbe des Organisationsgrnders nicht rcksichtsvoll um. Bei Timothy
- White heisst es dazu (A People for His Name, 1968, S. 220):
-
- Jeder, der die Wachtturm-Jahrgnge der 1920er Jahre durchgeht
- und zwei und zwei zusammenzhlen kann, wird erkennen, dass
- Rutherford die Fehler in Russells Lehren nie ehrlich benannte.
- Zumeist gab er einfach seine vernderte Ansicht bekannt, ohne
- berhaupt einzugestehen, dass sie der langgehegten und oft gut
- begrndeten Sichtweise widersprach. Bezog er sich doch einmal
- auf eine fremde Ansicht, die er als Russells kennzeichnete,
- dann handelte es sich entweder um eine Verdrehung oder eine
- grobe Vereinfachung; manchmal auch hatte Russell diese Ansicht
- gar nicht gehabt oder hatte ihr sogar ausdrcklich wider-
- sprochen. Damit soll nicht gesagt sein, dass der Richter immer
- unrecht hatte; doch wenn er Recht hatte, so war das rein
- zufllig.
-
- Drittens und letztens ist fortschreitende Offenbarung keine
- Entschuldigung fr extreme Schwankungen der Lehre. Paulus warnt
- davor, wir sollten "nicht mehr Unmndige [sein], die wie von Wellen
- umhergeworfen und von jedem Wind der Lehre hierhin und dorthin
- getrieben werden durch das Trugspiel der Menschen" (Epheser 4:14,
- NW). Das Ausmass, in dem der "treue und verstndige Sklave", die
- leitende Krperschaft, seine Ansicht ber richtige und ntzliche
- Lehre gendert hat, ist schier unfassbar. Hier nur eine unvoll-
- stndige Aufzhlung der nderungen in der Lehre und Leitgrundstze.
- Einfach gesagt, glaubte die Wachtturm-Gesellschaft frher einmal,
- heute aber nicht mehr,
- * Kriegsdienst sei in manchen Fllen nicht verkehrt
- * Weihnachten knne man feiern
- * sich impfen zu lassen sei verkehrt
- * die Landesfahne knne man grssen
- * die Cheopspyramide sei ein Zeugnis der Prophetie
- * Pastor Russell sei der treue und verstndige Sklave
- * das Buch Das vollendete Geheimnis sei ein zuverlssiger
- Leitfaden der Wahrheit
- * Jesus sei ein einem Kreuz gestorben
- * man msse Jesus verehren
- * wer nicht mehr in den Schriftstudien Russells lese, verfalle
- der Finsternis
- * der Neue Bund sei nur fr die fleischlichen Juden
- * der Neue Bund sei fr alle Angehrigen der (wahren) Kirche
- * die Treuen des Alten Testaments kmen in den Himmel
- * Blutbestandteile drften nicht transfundiert werden
- * Behandlung beim Psychiater sei dmonisch
- * Aluminium sei gefhrlich
- * Homosexualitt und Sodomie seien keine Scheidungsgrnde
- * oraler Geschlechtsverkehr zwischen Verheirateten sei ein
- Grund fr den Ausschluss aus der Organisation
- * 1873 htten 6000 Jahre Menschheitsgeschichte ihren Abschluss
- gefunden
- * 1874 sei Christus unsichtbar wiedergekommen
- * 1878 wrde Christus seine Macht antreten
- * 1881 ende der Ruf an die 144 000
- * 1914 werde das Ende der Welt kommen.
- Ausser diesen - teilweise ganz einschneidenden - nderungen gab es
- betrchtliche Wandlungen in der Frage des Auftrags, den Christen
- heute in der Welt zu erfllen haben, der Rolle der Organisation,
- der Deutung des Elia- und Elisa-Werkes, der Frage der Bekehrung der
- Juden, der Bedeutung der Hingabe und Weihung des einzelnen, dem
- Beginn des Bundes Christi, der Bedeutung des Abendmahls, der
- Haltung gegenber Rauchern, der Rolle des Versammlungsaufsehers,
- der Taufformel, der Frage des Umgangs mit Ausgeschlossenen und
- solchen, die die Gemeinschaft von sich aus verlassen haben, der
- Rolle der ltesten, der Frage, wer der "bse Sklave" ist, und wer
- zur Jonadabklasse gehrt. Der Begriff Jonadab war auf Zeugen
- Jehovas angewandt worden, die keine himmlische Hoffnung hatten.
- Die Leitung der Wachtturm-Gesellschaft hat ihre Meinung auch schon
- in derselben Sache zweimal gendert. So lehrte Russell, die
- "obrigkeitlichen Gewalten" aus Rmer 13 seien die menschlichen
- Regierungen. Rutherford wandte den Text auf Jehova und Jesus an,
- doch spter bernahm man wieder die Sichtweise des Grnders der
- Organisation. Russell liess den ltesten und Diakonen betrcht-
- lichen Freiraum, Rutherford dagegen schaffte diese biblischen mter
- im Jahr 1932 ab, um seine eigene Macht zu festigen. In den frhen
- 1970er Jahren wurden sie wieder eingefhrt, vor allem als Folge des
- von Raymond Franz fr das Buch Hilfe zum Verstndnis der Bibel
- zusammengetragenen Materials.
- Bei der Beurteilung der Frage, welche Bedeutung die nderungen in
- der von der leitenden Krperschaft verkndeten Lehre und Leitgrund-
- stze haben, darf man zwei Dinge nicht vergessen: Erstens ist die
- leitende Krperschaft eine in der Geschichte der Organisation junge
- Einrichtung. Die ersten drei WachtturmPrsidenten herrschten wie
- die Monarchen, wie Raymond Franz das in Der Gewissenskonflikt
- belegt. Zweitens ist es mit der reinen Aufzhlung der nderungen in
- Lehrpunkten nicht getan, denn damit erfasst man nicht das Ausmass
- an tiefem Schmerz, den diese ber viele Zeugen Jehovas gebracht
- haben, die ihre berufliche Laufbahn, ihre Ehe, Kinder und Gesund-
- heit auf dem Altar der vergnglichen, schnell sich ndernden
- Ansichten der WachtturmOberen opferten. Man denke nur an die
- Folgen, die es haben konnte, weil man wegen des Verbots der
- Organisation Impfungen ablehnte. Zu beachten ist dabei, dass die
- Ablehnung des Impfens in eine usserst drastische Sprache verpackt
- war, wie das folgende Zitat aus dem Golden Age vom 1. Mai 1929, S.
- 502 zeigt:
-
- Denkende Menschen erkranken lieber an Pocken, statt sich
- dagegen impfen zu lassen, denn durch die Impfung werden
- Syphilis, Krebs, Ekzeme, Wundrose, Skrofulose und Tuberkulose,
- ja sogar Lepra und viele weitere schreckliche Krankheiten
- eingeschleppt. Das Impfen ist deshalb ein Verbrechen, ein
- Frevel und eine Selbsttuschung.
-
- Die Wachtturm-Gesellschaft hat wiederholt bestimmte Daten fr das
- Ende der Welt genannt und aus diesem Anlass ihre Mitglieder dazu
- aufgerufen, nicht zu heiraten, keine Kinder zu bekommen und keine
- Berufslaufbahn anzustreben. Im Knigreichsdienst (engl., Juni 1969,
- S. 3) werden Jugendliche ermahnt: "In Anbetracht der kurzen
- verbleibenden Zeit ist die Entscheidung, eine Berufslaufbahn in
- diesem System der Dinge anzustreben, nicht nur unweise, sondern
- usserst gefhrlich."
-
- Der Mythos von der Treue zu Gott
-
- Und dann gibt es schliesslich noch den einen grossen Mythos, der
- allen Glaubensansichten und der gesamten Glaubenspraxis der Zeugen
- Jehovas zugrundeliegt und alles durchzieht. Der zentrale Mythos,
- die beherrschende Idee in dieser weltweiten Gemeinschaft lautet,
- dass die Treue zur Organisation gleichbedeutend ist mit der Treue
- zu Gott. Der Gehorsam gegenber Gott lsst sich abmessen am Grad
- der Unterordnung unter die leitende Krperschaft der Zeugen
- Jehovas; wer dem "treuen und verstndigen Sklaven" widerspricht,
- weist den Rat Gottes zurck. Die zentrale Bedeutung dieses Mythos
- zu erfassen ist ein Schlssel zum Verstndnis der Zeugen Jehovas.
- Die unablssige Betonung des Gehorsams gegenber der Organisation
- steht in ironischem Gegensatz zu der ausdrcklichen Lehre Charles
- Russells. Ihm machten grosse Organisationen Angst, und er warnte
- vor Religionsorganisationen, in denen "die Lehrstze der Kirche die
- Herrschaft ausben" und wo "die Lehren der Organisation ber das
- Wort Gottes gestellt werden" (usserung Russells, zitiert nach The
- Finished Mystery, S. 209). In einem Watch Tower aus dem Jahr 1908
- kann man folgendes lesen:
-
- Der gefallene Mensch ist so ziemlich berall und zu jeder Zeit
- der gleiche. Und so stellen wir fest, dass es im Kreise derer,
- die den Herrn in unserem Evangeliumszeitalter anrufen, eine
- hnliche Neigung gibt [wie bei den Israeliten, die einen Knig
- wollten], zu vergessen, dass der Herr das hchste Haupt der
- Kirche, der grosse Wahrer ihrer Interessen, der grosse Lenker
- ihrer Angelegenheiten ist. Keine 200 Jahre des Evangeli-
- umszeitalters waren verstrichen, da verlangte der weltliche
- Geist nach mehr Organisation, als der Herr durch Jesus und die
- Apostel vorgesehen hatte.
-
-
- Das Festhalten an dem grossen Mythos erklrt zwei gegenwrtige
- Tendenzen in der Organisation, wenn es sie auch nicht rechtfertigt.
- Erstens: Die Angst vor Ungehorsam gegenber der leitenden Krper-
- schaft hlt die Zeugen Jehovas davon ab, die biblische Lehre
- sorgfltig zu erforschen oder Anschuldigungen bezglich falscher
- Voraussagen, unrichtiger Fakten und begangenem Unrecht genauer
- nachzugehen. Den Zeugen wird das Lesen von Bchern wie diesem
- untersagt, und gegen eine grndliche Diskussion umstrittener
- Wachtturm-Lehrpunkte aus Vergangenheit und Gegenwart gbe es
- starken Widerstand. Alan Rogerson sagt dazu:
-
- Fast immer bleibt sich der Zeuge seiner Sache vollkommen
- sicher, und diese Sicherheit kann nur durch innere Zweifel
- beseitigt werden. Ein derartiger Dogmatismus beschrnkt sich
- nicht allein auf Jehovas Zeugen - er ist auch fr andere
- Organisationen typisch. Bezeichnend dafr ist ein vlliger
- Mangel an Toleranz und eine starre Haltung, die die Betreffen-
- den sogar angesichts widersprechender Tatsachen nicht ndern
- - im Gegenteil, die Tatsachen werden gendert oder nicht
- beachtet, wenn sie nicht in die vorgefasste Meinung passen
- (Viele von uns werden niemals sterben, 1971, S. 207).
-
- Einige Zeugen Jehovas sagen vielleicht, sie fhlten sich nicht so
- dogmatisch an alles gebunden; doch fr die Mehrheit ist alles, was
- aus Brooklyn kommt, die Wahrheit, und dem Mitteilungskanal Gottes
- gebhrt volles Vertrauen. Wie in Kapitel 1 dieses Buches gezeigt,
- wird den Zeugen gesagt, sie sollten der leitenden Krperschaft
- folgen, um die Einheit zu wahren, auch dann, wenn Falsches gelehrt
- wird.
- Zum zweiten erklrt der grosse Mythos nicht nur, weshalb die Zeugen
- so oft gegen Kritik immun sind, sondern auch - zumindest zum Teil
- - weshalb die Wachtturm-Gesellschaft so ruppig mit denen umgeht,
- die die Organisation verlassen, sei es freiwillig oder aufgrund des
- Schuldspruchs eines Rechtskomitees. Wer ausgeschlossen worden ist
- oder von sich aus die Gemeinschaft verlassen hat, ist zu einem
- "sozialen Sibirien" verurteilt (wie es in einem Artikel im Tucson
- Citizen vom 12. Juni 1981 formuliert wurde), mit enormen Folgen fr
- das Gefhlsleben. Dass eine religise Gemeinschaft Disziplinarmass-
- nahmen gegen unmoralische Personen in ihren Reihen ergreift, ist
- berhaupt nicht zu beanstanden, auch nicht, dass die Wachtturm--
- Gesellschaft in vernnftigem Rahmen an ihrer Sicht der Welt
- festhlt. Darum geht es hier gar nicht.
- Was aber betroffen macht, ist die Anweisung aus jngerer Zeit
- (Wachtturm vom 15. Dezember 1981), dass man berhaupt keinen Umgang
- mehr haben soll mit jemand, der die Gemeinschaft verlassen hat,
- sofern das nicht unumgnglich ist. Man kann sich kaum ausmalen, was
- diese Anordnung weltweit fr Folgen gehabt hat. Selbst in Leth-
- bridge hat diese harte Linie schwere Wunden geschlagen. Nach der
- Verffentlichung des Artikels erhielten ehemalige Zeugen von ihren
- Verwandten und Freunden die Nachricht, dass es keinen weiteren
- Kontakt mehr geben wrde. Eine ehemalige Zeugin wird von ihrer
- Mutter einfach ignoriert, was sogar so weit geht, dass diese die
- Existenz ihrer Tochter leugnet, wenn sie gefragt wird, wieviele
- Kinder sie habe!
- Die Trauer ber die Hrte des Vorgehens der Wachtturm-Gesellschaft
- ist aber beiderseitig. Die Brde dieser Anweisung ist so gross,
- dass der Gehorsam schwerfllt. Blickt man wieder nach Lethbridge,
- so stellt man fest, dass es dort heimliche Familientreffen gibt,
- geheime Besuche whrend der Nacht oder Reisen zu Verwandten, bei
- denen verabredet wird, dass Ehemalige nicht ans Telefon gehen,
- damit man ihre Stimme nicht erkennt und die Snde herauskommt. Im
- Herbst 1985 wurden zwei Zeugen in Lethbridge streng zurecht-
- gewiesen, weil man sie dabei ertappt hatte, wie sie mit James und
- Marilyn Penton gesprochen hatten.
- Soll unser aller Treue zu Gott daran bemessen werden, ob wir der
- leitenden Krperschaft gehorchen oder nicht? Wenn man sich ansieht,
- was sie sich bisher schon alles an falschen Voraussagen, nderungen
- in der Lehre und schlampigem Umgang mit den Fakten geleistet hat,
- ist die Antwort eindeutig negativ. Treue zu Gott erfordert, dass
- man an Liebe und Wahrheit festhlt, selbst wenn das einer autorit-
- ren Organisation nicht passt.
-
- Jehovas Zeugen sind herausgefordert
-
- Dieses Kapitel wurde geschrieben, um denen in Lethbridge, die die
- Wachtturm-Gesellschaft verliessen, zu zeigen, dass fr sie kein
- Grund besteht, an der Richtigkeit ihrer Entscheidung zu zweifeln.
- Sie brauchen nur an die schwachen Mythen zu denken, denen sie den
- Rcken zugekehrt haben. Die Zeugen Jehovas werden dieser Ansicht
- vehement widersprechen. Am Ende wrde man in einer Pattsituation
- landen, in der jeder vortrgt, was seiner Meinung nach richtig ist
- und wo die Schuld wirklich liegt. Doch bei solchen Rhetorikbungen
- kann die Debatte nicht stehenbleiben. Die Zeugen bleiben gefordert.
- Haben Sie den Mut, den vielen Fragen, die in diesem Kapitel ange-
- schnitten wurden, wirklich auf den Grund zu gehen. Lassen Sie
- nichts unerforscht in Ihrem ehrlichen Ringen, die Zuverlssigkeit
- der Organisation in bezug auf Lehre, Voraussagen, wissenschaftliche
- Aussagen zu prfen. In der Wachtturm-Literatur wird ganz offen von
- Leuten aus anderen Religionen verlangt, "alles zu beweisen" -- und
- nun liegt es an den Zeugen, sich derselben Forderung zu beugen.
- Wenn Jehovas Zeugen vor dieser grundlegenden Forderung ausweichen
- wollen, indem sie andere beschimpfen, alles blind und unbesehen
- glauben wollen, oder auf andere unqualifizierte Art darauf
- reagieren, dann kann man nur an die Worte Rutherfords erinnern:
- "Der Irrtum sucht stets das Dunkel, die Wahrheit aber scheint im
- Licht nur heller. Der Irrtum will sich der Nachforschung entziehen.
- Das Licht blickt einer grndlichen und vollstndigen Untersuchung
- stets zuversichtlich entgegen" (Millionen jetzt lebender Menschen
- werden nie sterben, engl., S. 13).
-
- Schlussfolgerungen
-
- Um zu begreifen, was in Lethbridge abgelaufen ist, tut man gut
- daran zu unterscheiden, was einerseits noch offen bleibt und
- worber eine Diskussion noch mglich ist, und was andererseits als
- feststehend angesehen werden darf. Wie man die ganze Angelegenheit
- dann einschtzt, hngt zum grossen Teil von den eigenen Grund-
- annahmen und der Sichtweise ab, mit der man an die Untersuchung der
- Vorflle und der Streitfragen herangeht.
- Etliche Dinge bleiben im unklaren, entweder weil Aussenstehende
- keinen Zugang zu den Unterlagen der Wachtturm-Gesellschaft haben,
- oder weil die wichtigsten Beteiligten aus den Reihen der Zeugen
- jede Auskunft verweigern. [...]
- Der langandauernde Streit in Lethbridge lsst sich nicht mit einem
- einfachen Schwarz-Weiss-Raster erfassen. So wie Walter Graham, der
- Sprecher der Wachtturm-Gesellschaft in Kanada, die Lage darstellt,
- hat die Organisation berhaupt nichts verkehrt gemacht. Hierbei
- aber werden die Tatsachen in dreifacher Hinsicht verdreht, so dass
- ein falsches Bild der Ereignisse in jener Stadt entsteht.
- Die erste Tatsachenverdrehung besagt, James Penton habe einen
- Aufstand gegen die Organisation angefhrt und sei daher zu Recht
- ausgeschlossen worden. Damit stellt man Dr. Penton als einen Judas
- hin, der der Wahrheit widerstand und andere in seinen Verrat
- hineinzog. Richtig ist, dass viele Zeugen die Gemeinschaft vor
- Penton verliessen und ihm sagten, er sei naiv, wenn er an Reformen
- und Verbesserungen glaube. Der Professor war einer der letzten, die
- die Organisation verliessen, und er tat es zu keiner Zeit aus
- eigenem Antrieb. Es ist darum irrefhrend, ihn als einen Rebellen
- zu schildern, der sich mit seinen Leuten in den Kampf strzte.
- Viele verliessen die Reihen der Organisation aus biblischen,
- intellektuellen und emotionalen Grnden, die ganz unabhngig davon
- bestanden, ob der Professor redlich behandelt wurde oder nicht. In
- der Geschichte der Wachtturm-Bewegung hat es immer wieder Snden-
- bcke gegeben, Mnner wie Paul S. L. Johnson oder Olin Moyle, die
- mitansehen mussten, wie die Leitung der Organisation ihre ehrlichen
- Zweifel verdrehte und als Zielscheibe der Beschimpfung miss-
- brauchte. In hnlicher Manier wurde Penton die Schuld fr die
- Unruhe unter den Wachtturm-Anhngern im Sden Albertas zugeschoben.
- Eine weitere Verflschung der Fakten, zu der viele Zeugen greifen,
- ist die Unterstellung, bei denen, die gegangen sind, handle es sich
- um moralisch und geistig verkommene Subjekte. Sobald man dieses
- Bild der Abweichler akzeptiert - in Lethbridge oder anderswo -
- fllt es den Glubigen leicht zu rechtfertigen, dass sie solchen
- verwerflichen Menschen aus dem Wege gehen. In Wahrheit waren es
- aber Gewissensgrnde, die diese Menschen zu Abweichlern gemacht
- haben, und es gibt keinerlei Anlass, ihre moralische und geistige
- Qualitt in Bausch und Bogen zu verdammen. Dass sich die Zeugen in
- Lethbridge weigern, ihre eigenen Verwandten und ihre alten Freunde
- auch nur zu grssen, ist und bleibt eine Schande.
- Bleibt noch die Auffassung, wie sie auch Walter Graham vertrat,
- dass nmlich die WachtturmGesellschaft in bezug auf Penton und die
- anderen keine Fehler gemacht habe. Wie bereits in Kapitel 5
- berichtet, sagte Graham, es seien ganz sicher gengend Versuche
- unternommen worden, dem Professor entgegenzukommen. Diese Sicht-
- weise mag zwar fr Jehovas Zeugen sehr angenehm sein, dem Geschehen
- in Lethbridge aber wird sie ganz eindeutig am allerwenigsten
- gerecht.
- Jeder, der die Wachtturm-Gesellschaft von aller Schuld freispricht,
- bersieht grosszgig die Briefkampagne gegen Penton, das monatelan-
- ge Gerede, die anonymen Angriffe gegen ihn von offizieller Seite
- und den Einsatz von "Machtpolitik", wodurch er zum Schweigen
- gebracht und seine Lauterkeit angezweifelt werden sollte und mit
- der alle, die sich aus Gewissensgrnden auf seine Seite stellten
- und seine berechtigten Sorgen teilten, mundtot gemacht werden
- sollten.
- Das Bekanntwerden Kundwerden abweichender Meinungen innerhalb der
- Reihen der Zeugen Jehovas muss neben der Bedeutung, die es im Leben
- der unmittelbar betroffenen Einzelpersonen hat, auch Anlass sein zu
- allgemeinen Betrachtungen darber, was dieser Widerspruch ber die
- Gemeinschaft und die Wachtturm-Gesellschaft generell offenbart.
- ffentlich ausgetragene Meinungsverschiedenheiten sind stets Wasser
- auf die Mhlen der Kritiker. Die Art und Weise, wie die Wachtturm--
- Organisation mit der Kritik in ihren eigenen Reihen umging, wirft
- kein gutes Licht auf ihren Anspruch, die liebevollste Organisation
- auf Erden zu sein. Wenn berechtigte Klagen im Keim erstickt werden,
- geht damit der Ruf verloren, die Zeugen Jehovas bildeten eine freie
- und offene Gemeinschaft. Wenn kritischen Einwnden gegen die
- Bibelauslegung der Wachtturm-Gesellschaft nicht nachgegangen wird,
- so nhrt das den Verdacht, die Zeugen frchteten sich in vielen
- Fllen vor einem echten Studium der Bibel. Solange die Wachtturm
- Bibel- und Traktat-Gesellschaft sich nicht den Reihen der inter-
- nationalen theologischen Wissenschaft und ernsthaften Forschung
- anschliesst, wird man den Zeugen Jehovas weiter vorwerfen, sie
- litten unter den Mangelerscheinungen, die bei einer solchen
- Gettosituation zu erwarten sind. Dies vor allem, solange sie in
- ihrer Evangelisation und Selbstdarstellung so wenig Neigung zu
- echtem Dialog zeigen.
- Darber hinaus ist der Widerstand in Lethbridge auch ein weiteres
- Anzeichen dafr, dass die Gemeinschaft in den letzten Jahren eine
- schwierige Zeit durchmacht. Wie Tausende von Anhngern, die sich in
- den letzten zehn Jahren aus der Bewegung verabschiedet haben,
- belegen, gibt es weit verbreitete Kritik an dem stndigen Herumjon-
- glieren mit Endzeitdaten, am Missbrauch der Macht innerhalb der
- Organisation und am Mangel an Liebe. Wie jede andere Organisation
- auch hat die Wachtturm-Gesellschaft ruhige und strmische Zeiten
- durchzumachen, in der letzten Zeit sogar recht strmische. [...]
- Wie es weitergehen wird, lsst sich schwer voraussagen; es bleibt
- die Hoffnung, dass die Fhrung in Brooklyn den Anhngern etwas mehr
- Freiheit zubilligen mge.
- Und schliesslich zeigt die Unruhe in dieser Stadt im Sden
- Albertas, welch straffe Gefolgschaft die Wachtturm-Gesellschaft
- erwartet. Freundschaften und Familienbande mssen geopfert werden,
- wenn das verlangt wird, und viele halten mit absoluter Treue zur
- Mutterorganisation in Brooklyn. Geht man vom WachtturmWeltbild aus,
- so ist das verstndlich. Es zu verstehen heisst aber nicht immer,
- es auch gutzuheissen. Das offene Eintreten fr eine abweichende
- Meinung, wie man es in Lethbridge gesehen hat, wird darum fr viele
- andere ein Zeichen der Hoffnung sein, dass es selbst in bedrcken-
- den Religionsorganisationen Menschen gibt, denen Wahrheit,
- Gerechtigkeit und Liebe so viel bedeuten, dass sie bereit sind,
- sich dafr in einen Treuekonflikt zu strzen, auch wenn sie einen
- hohen Preis zu zahlen haben.
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- vom Verfasser autorisierte bersetzung: Helmut Lasarcyk (4.89)
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