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- Marja und das Ichwil
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- Es war einmal eine junge Frau, die von ihrer Umwelt als sehr angenehm
- erlebt wurde. Das war schon immer so gewesen mit Marja. Als Kind gab sie
- stets das schne Hndchen, machte einen Knicks, wenn sie Leute begráen
- sollte, gab den Eltern keine Widerworte und gehorchte ihnen aufs Wort.
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- "Wenn du nur immer brav und fgsam bist, dann werden wir und die anderen
- Menschen dich liebhaben", sagten die Eltern oft. Auch spter in der Schule
- wurde Marja von den Lehrern gelobt, weil sie fleiáig und still war und sich
- nicht an dem Unfug der anderen Kinder beteiligte.
- "Das darf man nicht, das tut man nicht", flsterten ihr die Angstgespenster
- zu, "nur wenn du gehorsam bist, werden die Leute dich mgen." Und da Marja
- ganz viel Sehnsucht nach Liebe hatte, band sie ihrer Neugier die Augen zu
- und legte ihre Trume in Ketten.
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- Die Eltern erzogen Marja nach ihren Normen und Werten und vermittelten ihr
- unablssig, daá sie selbstlos immer nur das Beste fr ihre Tochter im Sinn
- htten. Marjas Dankbarkeit und das Gefhl, in der Schuld der Eltern zu
- stehen, drcktsn sich in Anpassung und Lenkbarkeit aus.
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- Da Marja ein hbsches Mdchen war, gab es auch einige junge Mnner, di
- esich sehr fr sie interessierten. Die wollten sie kssen und ihren Krper
- berhrnen. Marja war sehr erschrocken darber, weil sich die
- beschwrerische Formel ihrer Eltern fest in ihr eingenistet hatte: das tut
- man nicht, das gehrt sich nicht!
- Aber die Eltern hatten auch gesagt: du muát es den anderen rechtmachen,
- damit du ihr Wohlwollen nicht verlierst. Und wenn Marja sich kssen und
- anfassen lieá, hatte sie ein schlechtes Gewissen, weil sie nicht unter-
- scheiden konnte, ob sie nun durfte, was man nicht tat oder ob dies zu ihrer
- Freundlichkeit gehren muáte. Und auch die jungen Mnner sagten jeweils zu
- ihr: "Wenn du so bist oder so, dann hab ich dich lieb." Und das war es ja,
- was Marja sich so sehr wnschte.
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- So kam es, daá sie immer aufmerksamer wurde, was die Erwartungen der
- anderen anbelangte und versuchte, diese zu erfllen. Sie merkte gar nicht
- mehr, daá dies zum Teil ganz unterschiedliche Dinge waren. Sie sollte so
- sein oder so, das lassen und jenes tun, hier nein und dort ja sagen.
- Und Marja gab sich atemlos Mhe, alle zufriedenzustellen. Sie hatte ein
- feines Gespr dafr entwickelt, welches Verhalten bei den anderen Miáfallen
- auslste, und sie sorgte ngstlich dafr, Unerwnschtes zu vermeiden. So
- erhoffte sie sich Wohlwollen und Zuneigung zu sichern.
- Wenn sie einmal traurig war, zwang sie sich zu unverbindlicher Heiterkeit.
- Schlieálich hatten die anderen genug eigene Probleme. Wenn sich, wenn auch
- nur ganz leise, rger in ihr regte, schickte sie ihn schuldbewuát in ihre
- innere Verbannung, weil die anderen mit Sicherheit eher Recht hatten als
- sie. Ja, und ganz kleine, schon ein wenig blasse Wnsche hatte sie damals
- auch noch, doch die der anderen waren so selbstverstndlich wichtiger.
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- Doch obwohl sie sich so schrecklich viel Mhe gab, fhlte sie sich immer
- unzulnglicher.
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- Wen sie etwas sagte, sollte sie es anders sagen. Hier die Meinung des einen
- und dort die Meinung des anderen.
- Wenn sie etwas tat, sollte sie es anders tun. Mal wie es dem einen gefiel,
- mal wie es der andere fr wnschenswert hielt.
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- Marja verteilte ihr Ich wie einen gesprungenen Spiegel, in dessen Scherben
- sie ihr Bild nur noch ganz zersplittert sehen konnte. Und immer saá sie
- zwischen den Sthlen. Enttuscht und mit unvermindertem Hunger nach Liebe.
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- Eines Tages jedoch ging gar nichts mehr. Marja wurde krank. Sie konnte
- nicht mehr sprechen, sie konnte sich nicht mehr bewegen. Sie lag nur noch
- in ihrem Bett, gefesselt von einer lhmenden Traurigkeit. Bekam Fieber.
- Kein Arzt konnte ihr helfen, keine Medizin. Sie war stumm und blaá, und
- manchmal weinte sie. Hin und wieder hatte sie wirre Trume, die sie nicht
- zu deuten wuáte. Sie fhlte sich unendlich allein.
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- Da geschah es, daá sie in einer jener Nchte, in denen sie nicht schlafen
- konnte, einen Schatten am Fenster wahrnahm. ngstlich starrte sie auf die
- Umrisse eines bizarren Etwas, das sich auf dem Fensterbrett niedergelassen
- hatte.
- "Mach das Fenster auf, Marja", vernahm sie eine leise Stimmt. Auch jetzt
- war ihr Gehorsam noch strker als die Angst, und sie sammelte ihr biáchen
- Kraft, um aufzustehen und dieses seltsame Ding einzulassen. Es flog
- geradewegs auf ihre Bettkante. Marja setzte sich furchtsam ans Fuáende und
- wartete ergeben auf weitere Geschehnisse.
- "Das war wohl allerhchste Zeit, daá ich zurckkomme", sagte die Stimme
- atemlos. "Du hast mich ja ganz schn weit fortgeschickt!"
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- Marja blickte das Ding verstndnislos an. Sie konnte sich nicht erinnern,
- es schon jemals gesehen zu haben. Merkwrdig sahe es aus. Ein biáchen wie
- eine Wurzel, aber es hatte auch Ecken und Kanten, wie ein ungeschliffener
- Stein.
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- "Nein, Marja, so hast du mich wirklich noch nicht gesehen", erklrte das
- Wesen nachsichtig. "Ich habe mcih nur fr dich sichtbar gemacht, weil du
- ein deutliches Signal brauchst. Sonst httest du mich nicht mehr
- wahrgenommen. Ich bin sicher, daá du dich kaum noch an mich erinnerst,
- nicht wahr?"
- Marja schttelte stumm den Kopf.
- "Ich bin dein Ichwill", sagte das eigenwillige Ding.
- "Mein Ich-will?" Das Wort lag sperrig in Marjas Mund.
- "Ja, dein Ichwill", antwortete dieses, "mit all deinen Trumen, Wnschen
- und Vorstellungen."
- Marja schluckte. Diese Worte waren ihr nicht gelufig, und sie lagen jetzt
- fremd und zugeschnrt auf ihrer Bettdecke.
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- Das Ichwill begann wieder zu sprechen.
- "Eigentlich war ich schon immer bei dir, aber man hat dir den Umgang mit
- mir verboten. Erinnerst du dich, wie wir uns eine Zeitlang heimlich
- getroffen haben?"
- Nein, Marja erinnerte sich nicht.
- "Oh, du hattest groáe Angst, daá sie mich entdecken knnten", fr das
- Ichwill fort. "Erst hast du mich immer versteckt, wenn jemand in der Nhe
- war. Hast mich nur zugelassen, wenn du dir sicher warst, alleine zu sein.
- Spter dann hast du versuct, mich glatt und rund zu schleifen, damit ich
- nirgendwo mehr anecke. Als du merktest, daá das nicht mglich war, wolltest
- du mich ersticken, mich auslschen. Ich war zwar schon sehr still geworden,
- aber ich war noch da. Ja, und dann hast du dir sehr viel Mhe gegeben, mich
- einfach nicht mehr zu beachten, mich zu verleugnen. Du wolltest mich
- loswerden, da ich dir nur hinderlich war. Du glaubtest, ohne mich endlich
- die ganze Liebe der anderen zu bekommen, nach der du dich so gesehnt hast.
- Diese Sehnsucht, Marja, hatte mich gerhrt. Und ich zog mich ganz aus
- deinem Fhlen zurck. Heute weiá ich, daá das ein Fehler war."
- Das Ichwill schwieg nachdenklich.
- Marja hatte atemlos zugehrt. Zunchst saá sie wie versteinert da. Dann
- versprte sie einen Schmerz in sich, scharf wie ein Messerschnitt, der ihr
- Trnen in die Augen trief. Was hatte sie diesem armen Ding alles angetan!
- "Du tust mir so leid", flsterte sie erstickt. Das Ichwill lachte lachte
- liebevoll.
- "Das ist gut", sagte es nachsichtig. "Denn immerhin bin ich ein Stck von
- dir. Und endlich, Kleines, endlich empfindest du einmal Mitleid mit dir
- selber. Doch hre mir weiter zu, Marja, ich habe dir noch mehr zu sagen.
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- Nach meinem Rckzug hast du dich bedingungslos den Ichwills der anderen
- unterworfen. Warst formbar wie Wachs und hast dich verformen lassen. So
- oder so oder auch so und so. Du warst ein pflegeleichtes Ding. Bequem und
- biegsam zu handhaben. Ganz verfgbar fr die jeweilige Willkr deines
- Gegenbers. Man hatte leichtes Spiel mit dir. Zu leicht, Marja. Ein
- Spielzeug ohne Widerstand, ohne eigene Impulse, was keine Spannung
- erzeugte, keine Anregung bot zu lebendiger Auseinandersetzung.
- So warst du den einen Sklavin - sie konnten mhelos mchtig werden neben
- dir - und den anderen eher eine Last mit deiner klammernden Angst, ihre
- Zuneigung zu verlieren. Und jetzt, jetzt hast du dich vllig verausgabt,
- ohne etwas zurckbekommen zu haben. Jedenfalls nichts von dem, was du dir
- so sehr gewnscht hast.
- Deine Seele blutet schon lange, Marja. Doch du warst dir nicht einmal
- so viel wert, daá du diese Wunden gepflegt httest. Nun liegst du da und
- bist krank. Stumm und reglos.
- Die Verweigerung deines Krpers spricht eine deutliche Sprache. Die
- Botschaft heiát Kapitulation. So geht nichts mehr, aber vielleicht geht es
- anders. Dein Fieber ist eine Form von Rebellion. Da glht etwas in dir. So
- als ob sich ein Funke entzndet htte."
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- Marja faáte sich an die heiáe Stirn. Sie war sich auf einmal nicht mehr
- sicher, ob diese ganzen Geschehnisse nicht Ausgeburten eines Fieberwahns
- waren. Abe das offene Fenster und auch das bizarre Ding neben ihr schlossen
- ihre Zweifel aus.
- "Warum bist du zurckgekommen", fragte sie fast tonlos.
- "Weil du mich gerufen hast, Marja", antwortete das Ichwill.
- Marja versuchte unglubig sich zu erinnern.
- "In deinen Trumen hast du mich gerufen", erklrte das Ichwill.
- "Die Botschaften waren verschlsselt, weil du mich so sehr verdrngt
- hattest. Und doch waren sie eindeutig. Deine Krankheit ist nichts weiter
- als deine Flucht in einen Schutzraum, in dem du unbedroht von uáeren
- Einflssen auf meine Rckkehr warten wolltest. Sie ist dein Aufbumen vor
- der endgltigen Selbstaufgabe".
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- Marja begann zu zittern. Ihr war, als wrde ein inneres Erdbeben ihre
- Versteinerung erschttern. Sie fhlte so vieles in sich brckeln, sprte
- Schwingungen und Vibrationen. Alles in ihr schien sich in Bewegung zu
- setzen, und das machte ihr groáe Angst.
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- Das Ichwill schlug eine Brcke zu ihr und legte sich in ihre Hnde.
- "Hab keine Angst, Marja", sagte es ernst. "Du rumst auf in dir. Schaffst
- Platz fr mich, damit ich in dir wachsen kan. Laá dir Zeit. Du wirst so
- vieles neu kennenlernen mssen, wirst ausprobieren und fr dich Wagnisse
- eingehen. Du wirst die Nhe zuz dir suchen, durch all die Irrtmer zwischen
- dir. Und du wirst den Mut finden, zu dir und vor allem zu deinen Neins zu
- stehen."
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- "Zu meinen Neins", fragte Marja zgernd.
- "Ja", sprach das Ichwill, "deine Neins sind dein Widerstand, deine
- Weigerungen, dein Protest, Dinge hinzunehmen, die dich klein und demtig
- machen.
- Viel zu lange hast du diese Regungen in dir unterdrckt, weil die Abhngig-
- keit vom Wohlwollen der anderen dich glauben lieá, durch Widerspruch
- Zuwendung zu verlieren. Deine Sehnsucht nach Anerkennung, nach Gemochtwer-
- den war so blind und verzweifelt, daá du bedingungslos bereit warst, dich
- in deinem Sosein aufzugeben. Du wolltest geliebt werden, aber da war nichts
- mehr erkennbar, was man htte lieben knnen! Du warst ausdruckslos, ohne
- Prgung, ohne Selbstwert. Und damit auch ohne Wert fr andere.
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- Marja kmpfte mhsam um Fassung. Es tat weh, diese Erkenntnis, daá sie in
- ihrem bisher gelebten Leben einem vermeintlichen Paradies hinterhergelaufen
- war und daá niemals die Aussicht bestanden hatte, es berhaupt zu
- erreichen, um darin wie ein Kind Zuflucht zu finden. Die Richtung stimmte
- nicht, und das Ziel war fragwrdig. Jetzt lag es an ihr, einen neuen Weg zu
- finden, ihren Weg. Und der war noch gnzlich unerschlossen.
- "Aber ich will, ja, ich will..." sagte Marja aufgeregt und erschrak. Ihre
- Hnde waren leer, und sie konnte das Ichwill nirgendwo im Raum entdecken.
- "Ich bin da, wo ich hingehre", vernahm sie seine Stimme. Und das
- Merkwrdige war, daá Marja sie in sich wahrnahm, das heiát, es war eher wie
- ein Denken von ihr.
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- "Doch, ja" sagte sie jetzt zu sich, "ich will mit mir sein, mich mit mir
- anfreunden. Ich will mit meinen Wnschen, meinen Mglichkeiten vertraut
- werden. Ich will mein Ichwill kennenlernen."
- Und Marja stand auf und ging aus der Tr, ihrem Abenteuer entgegen.
- Die Suche begann ganz vorsichtig.
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- (c) J. Quirmbach