home *** CD-ROM | disk | FTP | other *** search
/ Groovy Bytes: Behind the Moon / groovybytes.iso / GROOVY / MISC / TEXTE / LOVEP.TXT < prev    next >
Encoding:
Text File  |  1995-07-26  |  15.8 KB  |  297 lines

  1. Absender   : Thomas Schulze-Drescher @ 2:244/6110.8  (Gigabase Line 1, Gruendau)
  2. Betreff    : Love Parade Presseschau
  3. Datum      : Do 20.07.95, 00:00  (erhalten: 23.07.95)
  4. ----------------------------------------------------------------------
  5. ## Nachricht vom 12.07.95 weitergeleitet
  6. ## Ursprung : /T-NETZ/RAVER
  7. ## Ersteller: olaf@bigred.inka.de
  8.  
  9. Im folgenden habe ich die Berichte zur Love Parade aus den wichtigeren
  10. deutschen Tageszeitungen, soweit hier in der Bibiliothek zu finden,
  11. zusammengestellt. Sämtliche Berichte sind aus den Ausgaben vom
  12. 10.7.95. Weil das doch zum Teil recht lange Artikel sind, beschränke
  13. ich mich auf das Zitieren der wichtigsten Passagen.
  14.  
  15.                                   *
  16.  
  17. Die /Süddeutsche Zeitung/ bringt auf S.8 unter Vermischtes einen
  18. reinen Bericht, was los war:
  19.  
  20. Demonstration für "Frieden auf Erden"
  21. Von Alexander Zeiger
  22.  
  23. 250000 Politiker und Politikerinnen aus ganz Europa sind am
  24. vergangenen Wochenende in Berlin zur Loveparade zusammengekommen, um
  25. gemeinsam für den "Frieden auf Erden" zu demonstrieren. Vielleicht
  26. waren es auch 500000. Die Zahlen schwanken. Die Loveparade - nach
  27. Überzeugung der Veranstalter eine politische Großdemonstration - ist
  28. am Samstagabend friedlich zu Ende gegangen.
  29. ...
  30. In Berlin [kamen] Hunderttausende zusammen, um gemeinsam und
  31. unabhängig von Nationalität, Religion, Hautfarbe oder
  32. Parteizugehörigkeit den "peace on earth" herbeizubeschwören.
  33. Jugendliche aller Länder vereinigten sich.
  34. Dieses Argument hatte [Innensenator] Heckelmann wohl überzeugt. Der
  35. Mega-Rave auf dem Ku'damm war politisch geworden, die "Girlies und
  36. Boyz" mithin zu Politikern. Das Abfallproblem, immerhin soll das
  37. Großreinemachen im vergangenen Jahr rund 100000 Mark gekostet haben,
  38. schien auch gelöst: Marketing Alba und BSR Unternehmenskommunikation
  39. stellten ein Abfallkonzept vor. In Zusammenarbeit mit der städtischen
  40. Abfallbeseitigung wurden 240 Container aufgestellt. ... Das Resultat:
  41. Angetörnt von "Tekkno"tönen, der Hitze und einer hoch dosierten Prise
  42. Ozon landeten Flaschen, Dosen und Papier auf dem Boden. Die
  43. Wertstoffcontainer hatten ja die Raver als Sitzgelegenheit und
  44. Aussichtsplattform in Beschlag genommen.
  45. ...
  46. 34 Lastwagen, mehrere hunderttausend Watt starke Lautsprecheranlagen
  47. aufgebockt und Glamour-Girls im Gepäck, bahnten sich den Weg vom
  48. Wittenberg- zum Adenauerplatz. Alle 50 Meter ein neuer Sound.
  49. Dazwischen eher verhaltene Stimmung bei den Besuchern. "Warum seid ihr
  50. so ruhig?", bum-pf, bum-pf, "so ru-uhuhig", bum-pf, rappte der
  51. Diskjockey auf Wagen 15. ...
  52. Abseits des Ku'damms viele Privatparties, die Bedienungen im
  53. Dauerstreß, der Melonenverkäufer und seine Frau kümmerten sich um die
  54. Ausgelaugten und Ausgehungerten. Sonnebrillenverkäufer machten letzten
  55. Samstag Spitzenumsätze. Die Energiedrinks waren nach einer Stunde
  56. bereits ausverkauft. ... Der Tanz auf dem Ku'damm war der Hit, will
  57. man den Aussagen der Raver glauben.
  58.  
  59.                                   *
  60.  
  61. In der /Stuttgarter Zeitung/ findet sich auf S.14 (Aus aller Welt)
  62. einen ähnlichen Bericht.
  63.  
  64. Keine Botschaft, keine Randale - nur Spaß
  65. Beim Berliner Technotreffen voller als nach dem Mauerfall
  66. Von Joachim Rogge
  67.  
  68. ...Mildtätige Nachbarn kippen Wassereimer auf die junge Gemeinde, die
  69. seit Stunden in der prallen Hitze auf der Stelle hüpft. Die Duschen
  70. von oben werden genauso begeistert bejubelt wie die kräftigen
  71. Spritzer aus den überdimensionalen Wasserpistolen mit Reservetanks.
  72. Jeder ballert auf jeden, ganz nach Kinderart aus Spaß am Necken.
  73. Friedliche Wasserschlachten haben die Straßenschlachten früherer Jahre
  74. abgelöst. Techno, auf dem Weg zur stilprägenden Jugendkultur der
  75. neunziger Jahre, hat mit Randale nichts im Sinn. Um puren Spaß geht
  76. es, ohne große Botschaften, und die Musik ist die Droge auf dem Weg
  77. zur Ekstase.
  78. ...
  79. Die Häuser erzittern unter dem Gedröhn aus 100000-Watt-Anlagen.
  80. Richtige Techno-Junkies laufen direkt hinter den Boxen her, jeder
  81. Bass-Takt ein antörnender Schlag in die Magengrube. "Tanzen ist Liebe,
  82. Tanzen ist Sex", sagt ein junges Mädchen. Grell, schrill und sexy ist
  83. das Outfit; möglichst wenig lästige Kleidung die Devise.
  84. ...
  85. Die meisten Laster sind nur mit Boxen vollgepackt, reduziert auf das
  86. Wesentliche. Diskjockeys mixen den Sound, aus dem Techno-Träume sind.
  87. Die Massen zucken, ballen die Fäuste im Stakkato-Rhythmus. Immer
  88. wieder werden brutal einsetzende Bässe bejubelt, beklatscht, bejohlt.
  89. Längst haben Techno-Fans Laternenmasten erklommen und wippen im
  90. Rhythmus auf ihren lebensgefährlichen Logenplätzen. Jedes Gerüst - und
  91. davon gibt es viele auf der Strecke - ist besetzt. Selbst an der
  92. Gedächtniskirche wird geklettert.
  93. ...
  94. Es ist voller, als in der Nacht vom 9. November '89, als die Mauer
  95. fiel. Die Krankenhäuser haben Hochbetrieb. In den Seitenstraßen sitzen
  96. völlig erschöpfte Raver, ausgelaugt und ausgedörrt von Wetterhoch und
  97. Lärm. Das ganze Stadtviertel erstickt im Dosenmüll. 
  98. ...
  99. Nach der "Love Parade" verzieht sich die Szene in die über 50
  100. Techno-Diskos in der Stadt, wo in Bunkern, Kellern und alten
  101. Industriehallen erst so richtig die Post abgeht. Seit Wochen sind die
  102. Veranstaltungen ausverkauft, bei Eintrittspreisen von zumeist deutlich
  103. über 50 Mark. Wer sich das nicht leisten kann, veranstaltet seine
  104. private Techno-Party. Viele tanzen einfach an ihren Autos weiter, die
  105. Stereoanlagen volle Pulle aufgedreht.
  106.  
  107.                                   *
  108.  
  109. Die /Frankfurter Rundschau/ widmet der Love Parade ihren Hauptbericht
  110. auf dem größten Teil der Seite 3.
  111.  
  112. Der Ku'damm tanzt
  113. Berlin gibt sich weder gereizt noch kulturell engstirnig, sondern
  114. leistet sich die Techno-Party Love-Parade
  115. Von Inge Günther (Berlin)
  116.  
  117. Eigentlich müßte der Ku'damm wegen Überfüllung geschlossen werden.
  118. Kein Dach, auf dem an diesem Samstag nachmittag nicht Jungs mit
  119. nacktem Oberkörper hocken; selbst die Gedächtniskirche wird nicht
  120. verschont. ... Von den Balkons kippen Bewohner gefüllte Wassereimer
  121. aus, deren Inhalt sich über die Stockwerke hinab als schwere Kaskade
  122. auf die Köpfe ergießt. Mit Johlen und Pfeifen heißt die Menge die
  123. Abkühlung willkommen. Sie steht so dicht, daß man sich wundern muß,
  124. wieso das Pflaster überhaupt naß wird. So voll, schütteln
  125. Alteingesessene den Kopf, war der Ku'damm, das Berliner Schaufenster,
  126. noch nie. Selbst bei der Maueröffnung oder der
  127. Fußballweltmeisterschaft nicht.
  128. ... 
  129. Von wahrer Liebe ist zu Beginn der 7. Love Parade (Motto: "Peace on
  130. Earth" - Frieden auf Erden) für Außenstehende wenig zu spüren. Das sexy
  131. Outfit - die BHs und Höschen, die ausgeschnittenen trägerlosen Hemden
  132. und Army-Shorts - steht in seltsamem Kontrast zu den erschöpften
  133. Gesichtern, den schweißnassen Körpern der Raver, wie sich die
  134. Techno-Fans selber nennen. Wenn das ein Happening sein soll, kann die
  135. Dame im Café Kranzler nur pikiert den Kopf schütteln. "Ein Happening?
  136. Hier passiert doch nichts", befindet sie streng. "Außer Gewusel sieht
  137. man nichts." Dabei würde Techno ohne Leute wie sie vermutlich gar
  138. nicht funktionieren. Der Erfolg einer jeden Jugendbewegung beruht
  139. schließlich in ihrer Abschreckungswirkung auf Erwachsene. Ihr
  140. eigentliches Geheimnis aber liegt darin, daß den nachwachsenden
  141. Generationen tatsächlich immer noch etwas einfällt, um Eltern zu
  142. provozieren und das Leben neu zu erfinden. ... Das schafft Techno.
  143. Techno ist in Elternohren kulturloser Krach, unerträglicher Lärm, ein
  144. Angriff auf das Hörvermögen. Ein Alptraum, dessen Wumm-Wumm-Bässe und
  145. Stakkato-Beats einem in die Magengrube fahren, das Hirn massieren und
  146. den ganzen Körper vibrieren lassen. Techno ist Kult, zu dem man eine
  147. einzige Eintrittskarte braucht, und die heißt jung sein. Ausnahmen
  148. mögen die Regel bestätigen.
  149. ... 
  150. Die Love-Parade mit ihrer wahrscheinlich Viertelmillion Besuchern (die
  151. Veranstalter sprachen gar von einer halben Million) hat an diesem
  152. Wochenende in ganz Berlin ein nicht vorhergesehenes Eigenleben
  153. entwickelt. Unter rein ordnungspolitischen Aspekten war dem nicht
  154. beizukommen. Schon in der Freitagnacht zelebrierten Techno-Freaks vor
  155. dem Reichstag ein Warm-up. ... Auch alles andere klang nach Rekord.
  156. 150 Techno-Partys in Clubs, Hallen und daheim. Dazu eine Outdoor-Fete,
  157. die anarchische Züge annahm: 500 eingesammelte Kollabierende und
  158. mindestens ein halbes Dutzend zerdellter Autos, nachlässigerweise von
  159. ihren Besitzern trotz polizeilicher Vorwarnung am Ku'damm abgestellt
  160. und von den Ravern mit einem Tanzboden verwechselt.
  161. ... 
  162. Wie macht man das? Wie hält man ein solches Tanzmarathon durch? Ein
  163. ehrlicher Raver nennt da nur zwei Alternativen. Entweder eine
  164. Ecstasy-Dosis, ersatzweise Amphetamine und Koffein, oder die
  165. stundenlange Verausgabe beim "Raven", bis der Körper eigenproduzierte
  166. Glücklichmacher, die Endorphine, ausschüttet. Wenn qman dieses Stadium,
  167. das echte Love-Parade-Gefühl, erreicht hat, so heißt es im Party-Guide
  168. für die Love-Parade 95, verliere man das Zeit- und Raumgefühl. "Dann
  169. kann man alles andere in den Hintergrund stellen."
  170. ...
  171. Zwischen Wittenbergplatz und Adenauerplatz kommt eine solche Stimmung
  172. erst in den Samstagabendstunden auf. Der Ku'damm tanzt. Die Menge hat
  173. sich entzerrt. Wo zu Beginn der Parade die eingekeilten Disco-Wagen
  174. sich mühsam einen Weg bahnten und nur die ganz zähen Raver ihnen zu
  175. folgen vermochten, herrscht nun lockere Bewegung. Was zu Beginn ins
  176. Aggressive umzukipppen drohte, ist eine ziemlich friedliche
  177. Demonstration dafür geworden, daß die Leute beseelt sind vom Hier und
  178. Jetzt. Mehr nicht, aber auch nicht weniger. Genau dieses Erlebnis
  179. verbürgt ein Gemeinschaftsgefühl in einer Zeit, in der überdrehte
  180. Individualität nicht selten in Einsamkeit endet.
  181. ...
  182. Berlin, die vielfach geschmähte Millionenstadt mit dem Ruf, ewig
  183. gereizt und nörgelnd zu sein, entpuppt sich seit neuestem als ziemlich
  184. wache Metropole. Und alle Welt stellt fest: Man kann an der Spree
  185. sogar tolerant, weltoffen und gelassen sein. Die Berliner nehmen nicht
  186. nur den Bonnern die Regierung weg, sondern haben sogar etwas zu
  187. vergeben. In Null Komma nichts ist in diesen Tagen der Begriff von der
  188. zukünftigen "Berliner Republik" entstanden, die sich dadurch
  189. auszeichne, daß sie weder national beschränkt noch preußisch
  190. ausgerichtet, noch kulturell engstirnig sei. ... Insofern hat die
  191. Love-Parade, auch wenn die Müllmänner noch ein paar hundert
  192. Überstunden in Rechnung stellen werden, ihren Platz im
  193. "Hauptstadtkalender" (Schirmherrin [Bürgermeisterkandidatin] Ingrid
  194. Stahmer) durchaus verdient.
  195.  
  196.                                   *
  197.  
  198. In der /Frankfurter Allgemeinen/ beschäftigt man sich im Feuilleton
  199. auf Seite 25 mit einer anderen Sicht der Love Parade.
  200.  
  201. Dank an Dr. Motte! Dr. Motte hat uns Stoff gegeben
  202. Auch eine deutsche Szene: Die Stadt, der Müll und die Love-Parade in
  203. Berlin
  204. Von Jens Jessen
  205.  
  206. Am Müllproblem wäre die Love-Parade beinahe gescheitert. Über das
  207. Müllproblem wurde Wochen, wenn nicht Monate in Berlin gestritten; von
  208. einem praktischen verwandelte es sich in ein juristisches, dann in ein
  209. politisches, schließlich in ein metaphysisches Problem. Manche
  210. erregten sich und wollten in dem Streit etwas hassenswert Deutsches,
  211. den berühmten Sauberkeitsfimmel sehen. Wer aber den Kurfürstendamm und
  212. seine Seitenstraßen in der Nacht der Parade gesehen hat, wird über die
  213. Diskussion nicht mehr lachen. Die wird ihm vielleicht blind, aber in
  214. ihrer Blindheit prophetisch erscheinen. Denn der Müll, nicht die
  215. Liebe, war das Thema der Love-Parade.
  216. ...
  217. Die Anschauung der Love-Parade gab der Mülldiskussion eine Würde
  218. zurück, die niemand der Diskutanten geahnt hatte, weil sie sich alle
  219. in den Begriff der politischen Demonstration verbissen und an eine das
  220. Politische übersteigende Allegorie nicht mehr gedacht hatten. ... Auf
  221. den erlösenden Gedanken, daß im Müll die Botschaft liegen könnte, kam
  222. niemand. So wurde die Diskussion erst durch die mäzenatischen Zusagen
  223. der städtischen und einer privaten Stadtreinigung entkrampft; also auf
  224. die falsche Weise, durch die Entsorgung des Mülls, nicht durch seine
  225. gesteigerte Wahrnehmung gelöst.
  226. ...
  227. Die eindrucksvollste Szene ereignete sich zwischen zehn und elf Uhr
  228. abends auf dem Wittenbergplatz. ... Es war nicht mehr der normale
  229. lose, fliegende oder rollende, sozusagen akzidentielle Müll. Die Dosen
  230. waren vollkommen flach getreten. Die Flaschen waren zu feinen und
  231. feinsten Glaskrümeln zerrieben. Die Menschen bewegten sich vorsichtig
  232. darüber hin, als seien sie nach einer Gewalttat plötzlich erwacht und
  233. sehend geworden, als streichelten sie die wehe Haut des Platzes mit
  234. ihren Füßen. Die wenigen erhalten gebliebenen Flaschen und Dosen
  235. wurden mit großer Zartheit hin und her gekickt.
  236. ... 
  237. Der Wittenbergplatz bebte; er hatte seine Folterer wieder. Die Wagen
  238. rollten unaufhaltsam wie Panzer in die Menschenmenge. Nur wenige
  239. wirkten wie erschöpfte Krieger, staubig und grau, mit den rasselnden
  240. Lungen der Dieselmotoren, die hinter dem Beat plötzlich hörbar wurden.
  241. Die meisten kamen im Triumph, über und über mit Feiernden beladen, mit
  242. wahren Menschenpyramiden, mit Zuckenden, Verzückten, mit Ravern im
  243. englischen Wortsinne.
  244. ...
  245. Sie schrien: "Dr. Motte hat uns Stoff gegeben", als sei er der Dealer
  246. der Musik. Sie hätten aber auch schreien können: "Dr. Motte hat uns
  247. die Peitsche gegeben"; und sie hätten damit nur das sinistre und
  248. keineswegs politisch korrekte Verhältnis zwischen Musikmachern und
  249. Tänzern in der Techno-Szene offen ausgesprochen, das selbst die
  250. Musikzeitschrift "Spex" nur im schaudernden Zitat eines anderen
  251. Magazins anzudeuten wagte: "Ein guter DJ (Diskjockey) will sein
  252. Publikum verführen, um es letztlich zu nageln - von vorne bis hinten."
  253. Diese berliner Love-Parade, in dieser dunklen, heißen Großstadtnacht,
  254. war wahrlich keine Parade der politischen Nächstenliebeleien. Sie war
  255. eine Parade der Liebe als Nachtgesicht. Sie war eine Gespensterparade,
  256. auf ihr tanzten die Gesichter und Gesichte hinter den schönen Masken
  257. der Zivilisation. Sie erzeugte und verbrauchte in einer Nacht die
  258. Illusionen eines ganzen Menschengeschlechts; und daß am nächsten
  259. Morgen die Stadtreinigung alle Ausscheidungen beseitigt hatte, konnte
  260. niemanden erleichtern, der den wahren Müll gesehen hatte.
  261.  
  262.                                   *
  263.  
  264. Eine ganzseitige Reportage schließlich findet sich auf Seite 11 der
  265. Berliner /tageszeitung/ [danke, Wolf! :-)]
  266.  
  267. Einfach schön und jung sein
  268. Love Parade 1995 - der Fall der Mauer war dagegen eine Abendandacht
  269. Einen Tag und eine Nacht feiert eine Generation sich selbst
  270. 200000 verwandeln Berlin in die heimliche Hauptstadt des Techno
  271. Von Torsten Preuß
  272.  
  273. Sie war wirklich süß. Minirock und schwarze Lederstiefel, ein T-Shirt,
  274. so leuchtend wie ein Textmarker und so eng, daß er kaum glauben
  275. konnte, daß dahinter keine Absicht steckt. "Na und", sagte er sich,
  276. schließlich war sie erst 16, er aber schon 32. Anfangs hatte er ihr
  277. nur zugehört, weil die Fahrt im Intercity Hamburg-Berlin so dröge war.
  278. Aber je länger sie erzählte, um so weniger Lust hatte er, von Berlin
  279. aus weiterzufahren nach Rudolstadt in Thüringen, einem kleinen Nest,
  280. in dem am Wochenende das größte Folkfestival diesseits des Atlantiks
  281. stattfinden sollte. Das, was er dort zu finden hoffte, konnte er auch
  282. hier in Berlin, der "heimlichen Hauptstadt des Techno", wie sie sagte,
  283. erleben: geile Party, geile Leute, geile Musik und viel, viel "Love
  284. and Peace".
  285. ...
  286. Als die beiden den Bahnhof Zoo verließen, reihten sie sich einfach ein
  287. in den Strom der blendend gelaunten Gästeschar. Das Thermometer zeigte
  288. 32 Grad. Es dauerte eine Weile, aber dann standen sie auf dem Kudamm,
  289. in einer Menschenmenge, die er in dieser Größe noch nie gesehen hatte.
  290. Waren es 200.000 oder 300.000 oder gar eine halbe Million? Wer will
  291. das schon sagen? Fest stand für ihn nur, daß wohl noch nie so viele
  292. Menschen zusammen auf einer Straße so ausgiebig getanzt, sich so
  293. hemmlungslos ausgelassen haben wie auf dieser Love Parade 1995. Der
  294. Fall der Mauer war dagegen eine Abendandacht.
  295.  
  296.  * Origin: Win95,from the guys that brought U Edlin (2:244/6110.8)
  297.