| 7.1 Bei der Prüfung der Neuheit ist es (im Unterschied zur erfinderischen
Tätigkeit) nicht zulässig, verschiedene Teile des Standes der Technik
miteinander zu verbinden (vgl. IV, 9.7). Wenn jedoch ein Dokument (das «Hauptdokument»)
[Text gelöscht] zur genaueren Information über bestimmte Merkmale
ausdrücklich auf ein anderes Dokument verweist, kann die Lehre dieses Dokuments
als Bestandteil des Hauptdokuments angesehen werden (siehe
T 153/85, ABl. 1-2/1988, 1), wenn das Dokument, auf das verwiesen
wird, der Öffentlichkeit am Veröffentlichungstag des Dokuments, das
die Verweisung enthält, zugänglich war. Zu kollidierenden Anmeldungen
siehe 6.1 und II, 4.18.
Derselbe Grundsatz gilt für etwaige Merkmale, auf
die ausdrücklich verzichtet worden ist (ausgenommen Disclaimer, die nicht
ausführbare Ausführungsformen ausschließen), und den Stand der
Technik, soweit er eigens beschrieben ist. Ferner
ist es zulässig, zur Auslegung eines im Hauptdokument verwendeten Fachbegriffs
ein Lexikon oder ein ähnliches Nachschlagewerk heranzuziehen. Der wirksame
Zeitpunkt für die Zwecke der Neuheitsprüfung (siehe IV, 7.3) ist immer
das Datum des Hauptdokuments.
7.2 Die zum Stand der Technik gehörenden Dokumente sind für
den beanspruchten Gegenstand neuheitsschädlich, wenn dieser unmittelbar
und eindeutigaus einem Dokument hervorgeht, einschließlich der Merkmale,
die darin zwar nicht ausdrücklich genannt sind, aber für den Fachmann
vom Inhalt mit erfaßt sind. Beispielsweise ist die Offenbarung der Benutzung
von Gummi in den Fällen, in denen eindeutig dessen elastische Eigenschaften
genutzt werden, auch wenn dies nicht ausdrücklich gesagt ist, neuheitsschädlich
für die Benutzung eines elastischen Materials. Die Beschränkung auf
den Gegenstand, der unmittelbar und eindeutig aus dem Dokument hervorgeht, ist
wichtig. Es ist also nicht richtig, die Lehre eines Dokuments bei der Prüfung
auf Neuheit dahingehend auszulegen, daß sie allgemein bekannte Äquivalente,
die in dem Dokument nicht offenbart sind, einschließt; dies gehört
in die Prüfung auf erfinderische Tätigkeit.
7.3 Bei der Ermittlung der Neuheit sollte ein früheres Dokument
so verstanden werden, wie es der Fachmann zum wirksamen Zeitpunkt des Dokuments
verstanden hat. Mit dem Begriff «wirksamer Zeitpunkt» ist im Falle
eines vorveröffentlichten Dokuments das Veröffentlichungsdatum und
im Falle eines Dokuments gemäß Art. 54(3) der Anmeldetag oder
gegebenenfalls der Prioritätstag gemeint.
Es ist jedoch zu beachten, daß eine chemische Verbindung, deren
Name oder Formel in einem Dokument erwähnt worden ist, nur als bekannt
anzusehen ist, wenn die Angaben in dem Dokument - gegebenenfalls zusammen mit
dem allgemeinen Fachwissen zum wirksamen Zeitpunkt des Dokuments - ihre Herstellung
und Abtrennung oder, zum Beispiel im Falle einer in der Natur vorkommenden Verbindung,
nur ihre Abtrennung ermöglichen.
7.4 Bei der Beurteilung der Neuheit ist gewöhnlich zu berücksichtigen,
daß die Offenbarung eines allgemeinen Begriffes die Neuheit eines speziellen
Beispiels, das unter den geoffenbarten allgemeineren Begriff fällt, nicht
vorwegnimmt; neuheitsschädlich ist dagegen die Offenbarung eines speziellen
Begriffes für einen allgemeineren Anspruch, der den geoffenbarten speziellen
Begriff einschließt, z. B. ist eine Offenbarung von Kupfer neuheitsschädlich
für Metall als allgemeinen Begriff, aber nicht neuheitsschädlich für
irgendein anderes Metall als Kupfer und eine Offenbarung von Nieten neuheitsschädlich
für Befestigungsmittel als allgemeinen Begriff, aber nicht neuheitsschädlich
für irgendein anderes Befestigungsmittel als Niete.
7.5 Im Falle eines früheren Dokuments kann sich die mangelnde Neuheit
aus dem Dokument selbst eindeutig ergeben. Sie kann sich jedoch auch implizite
dadurch ergeben, daß ein Fachmann bei Ausführung dessen, was sich
aus dem früheren Dokument ergibt, zwangsläufig zu einem Ergebnis gelangt,
das unter den Patentanspruchfällt. Einen Einwand wegen mangelnder Neuheit
dieser Art sollte der Prüfer jedoch nur dann erheben, wenn kein berechtigter
Zweifel hinsichtlich der praktischen Auswirkungen der früheren Lehre besteht.
Bezüglich einer zweiten nichtmedizinischen Verwendung siehe jedoch IV,
7.6.
Solche Situationen können sich auch ergeben, wenn die Erfindung
oder eines ihrer Merkmale in den Patentansprüchen durch Parameter definiert
werden (siehe III, 4.7a). Möglicherweise ist in dem einschlägigen
Stand der Technik ein anderer Parameter oder gar kein Parameter erwähnt.
Sind die bekannten und die beanspruchten Erzeugnisse sonst völlig identisch
(was zu erwarten ist, wenn beispielsweise die Ausgangserzeugnisse und die Herstellungsverfahren
identisch sind), dann ist zunächst ein Einwand wegen mangelnder Neuheit
geltend zu machen. Kann der Anmelder z. B. durch geeignete Vergleichstests
nachweisen, daß hinsichtlich des Parameters Unterschiede bestehen, so
ist fraglich, ob die Anmeldung alle für die Herstellung von Erzeugnissen,
die die in dem Patentanspruch aufgeführten Parameter aufweisen, wesentlichen
Merkmale offenbart (Art. 83).
7.6 Bei der Beurteilung, ob der Gegenstand
eines Anspruchs neu ist, sollte der Prüfer die in III, 4.4
- 4.12 gegebene Anleitung berücksichtigen. Er sollte bedenken,
daß insbesondere bei einem auf einen Gegenstand gerichteten Anspruch nicht
als Unterscheidungsmerkmale anzusehende Angaben über eine beabsichtigte
besondere Art der Verwendung außer acht gelassen werden sollten (siehe
III, 4.8). Beispielsweise würde ein für die Verwendung als Katalysator
beanspruchter Stoff nicht als neu gegenüber dem gleichen als Farbstoff
bekannten Stoff angesehen werden, es sei denn, die erwähnte Verwendung
verlangt eine besondere Art des Stoffes (z. B. bestimmte Zusätze), die
ihn von der bekannten Art des Stoffes unterscheidet. Das heißt, daß
Merkmale, die zwar nicht ausdrücklich genannt werden, die jedoch durch
die besondere Art der Verwendung vorgegeben sind, berücksichtigt werden
sollten (siehe das Beispiel einer «Form für
Stahlschmelzen» in III, 4.8).
Ferner ist zu beachten, daß ein Anspruch, der auf die Verwendung
eines bekannten Stoffes für einen bestimmten Zweck gerichtet ist (zweite
nichtmedizinische Verwendung), dahingehend auszulegen ist, daß er diese
technische Wirkung als funktionelles technisches Merkmal enthält. Ein solcher
Anspruch ist hinsichtlich der Neuheit dann nicht zu beanstanden, wenn dieses
technische Merkmal nicht bereits früher der Öffentlichkeit zugänglich
gemacht worden ist (Entscheidungen G 2/88, ABl. 4/1990, 93 und G 6/88, ABl.
4/1990, 114). Bezüglich von Ansprüchen, die auf eine zweite oder weitere
medizinische Verwendung gerichtet sind, siehe IV, 4.2.
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